Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.I Theil. Drittes Capitel. schönen Steinen daselbst ergangen ist. In dem Stoßischen Museo 1) isteben diese Vorstellung in Carniol geschnitten. Jener Stein kan dem Le- ser zugleich als ein Exempel dienen, von der Zweifelhaftigkeit in Entschei- dung zwischen Hetrurischen und zwischen Griechischen Arbeiten des äl- tern Stils. Die zweyte Eigenschaft kann nicht unter einen einzigen Be- griff gefasset werden: denn gezwungen und gewaltsam ist nicht einerley. Dieses gehet nicht allein auf die Stellung, die Handlung, und auf den Ausdruck, sondern auch die Bewegung aller Theile; jenes kann zwar von der Handlung gesagt werden, ist aber auch in der rauhesten Stellung. Gezwungen, ist das Gegentheil von der Natur, und gewaltsam, von der Sittsamkeit und von dem Wohlstande. Das erste ist eine Eigenschaft auch des ersten Stils, das zweyte aber dieses Stils insbesondere. Das ge- waltsame der Stellung fließet aus der ersten Eigenschaft: denn um den gesuchten starken Ausdruck und die empfindliche Andeutung zu erhalten, setzte man die Figuren in Stände und Handlungen, worinn sich jenes am sichtbarsten äußern konnte, und man wählete das Gewaltsame an statt der Ruhe und der Stille, und die Empfindung wurde gleichsam aufgebla- sen, und bis an ihre äußersten Grenzen getrieben. Man könnte auf die Figuren dieses Stils so wohl, als des ersten, in züglichen 1) Descr. des Pier. gr. du Cab. de Stosch, p. 329. 2) ap. Plutarch. Erot. p. 1338. l. 2. ed. H. Steph.
I Theil. Drittes Capitel. ſchoͤnen Steinen daſelbſt ergangen iſt. In dem Stoßiſchen Muſeo 1) iſteben dieſe Vorſtellung in Carniol geſchnitten. Jener Stein kan dem Le- ſer zugleich als ein Exempel dienen, von der Zweifelhaftigkeit in Entſchei- dung zwiſchen Hetruriſchen und zwiſchen Griechiſchen Arbeiten des aͤl- tern Stils. Die zweyte Eigenſchaft kann nicht unter einen einzigen Be- griff gefaſſet werden: denn gezwungen und gewaltſam iſt nicht einerley. Dieſes gehet nicht allein auf die Stellung, die Handlung, und auf den Ausdruck, ſondern auch die Bewegung aller Theile; jenes kann zwar von der Handlung geſagt werden, iſt aber auch in der rauheſten Stellung. Gezwungen, iſt das Gegentheil von der Natur, und gewaltſam, von der Sittſamkeit und von dem Wohlſtande. Das erſte iſt eine Eigenſchaft auch des erſten Stils, das zweyte aber dieſes Stils insbeſondere. Das ge- waltſame der Stellung fließet aus der erſten Eigenſchaft: denn um den geſuchten ſtarken Ausdruck und die empfindliche Andeutung zu erhalten, ſetzte man die Figuren in Staͤnde und Handlungen, worinn ſich jenes am ſichtbarſten aͤußern konnte, und man waͤhlete das Gewaltſame an ſtatt der Ruhe und der Stille, und die Empfindung wurde gleichſam aufgebla- ſen, und bis an ihre aͤußerſten Grenzen getrieben. Man koͤnnte auf die Figuren dieſes Stils ſo wohl, als des erſten, in zuͤglichen 1) Deſcr. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 329. 2) ap. Plutarch. Ερωτ. p. 1338. l. 2. ed. H. Steph.
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I Theil. Drittes Capitel.
ſchoͤnen Steinen daſelbſt ergangen iſt. In dem Stoßiſchen Muſeo 1) iſt
eben dieſe Vorſtellung in Carniol geſchnitten. Jener Stein kan dem Le-
ſer zugleich als ein Exempel dienen, von der Zweifelhaftigkeit in Entſchei-
dung zwiſchen Hetruriſchen und zwiſchen Griechiſchen Arbeiten des aͤl-
tern Stils. Die zweyte Eigenſchaft kann nicht unter einen einzigen Be-
griff gefaſſet werden: denn gezwungen und gewaltſam iſt nicht einerley.
Dieſes gehet nicht allein auf die Stellung, die Handlung, und auf den
Ausdruck, ſondern auch die Bewegung aller Theile; jenes kann zwar von
der Handlung geſagt werden, iſt aber auch in der rauheſten Stellung.
Gezwungen, iſt das Gegentheil von der Natur, und gewaltſam, von der
Sittſamkeit und von dem Wohlſtande. Das erſte iſt eine Eigenſchaft auch
des erſten Stils, das zweyte aber dieſes Stils insbeſondere. Das ge-
waltſame der Stellung fließet aus der erſten Eigenſchaft: denn um den
geſuchten ſtarken Ausdruck und die empfindliche Andeutung zu erhalten,
ſetzte man die Figuren in Staͤnde und Handlungen, worinn ſich jenes am
ſichtbarſten aͤußern konnte, und man waͤhlete das Gewaltſame an ſtatt
der Ruhe und der Stille, und die Empfindung wurde gleichſam aufgebla-
ſen, und bis an ihre aͤußerſten Grenzen getrieben.
Man koͤnnte auf die Figuren dieſes Stils ſo wohl, als des erſten, in
gewiſſer Maaße deuten, was Pindarus vom Vulcanus ſagt 2), daß er
ohne Gratie gebohren ſey. Ueberhaupt wuͤrde dieſer zweyte Stil, vergli-
chen mit dem Griechiſchen von guter Zeit, anzuſehen ſeyn, wie ein junger
Menſch, welcher das Gluͤck einer aufmerkſamen Erziehung nicht gehabt,
und dem man den Zuͤgel in ſeinen Begierden und Aufwallung der Geiſter
ſchießen laſſen, die ihn zu aufgebrachten Handlungen treiben, wie dieſer,
ſage ich, gegen einen ſchoͤnen Juͤngling ſeyn wuͤrde, bey welchem eine weiſe
Erziehung und ein gelehrter Unterricht das Feuer einſchraͤnken, und der vor-
zuͤglichen
1) Deſcr. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 329.
2) ap. Plutarch. Ερωτ. p. 1338. l. 2. ed. H. Steph.
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