Griechenland ist dieses von besagter Zeit in allerley Arten von Wissenschaf- ten gewiß, und es scheinet, daß sich damals auch über andere gesittete Völ- ker ein allgemeiner Geist ergossen, welcher sonderlich in die Kunst gewirket, dieselbe begeistert und belebet habe.
Wir gehen also von dem ersten und älteren Hetrurischen Stile zuC. Von dem zweyten Stile der Hetruri- schen Künstler, und von dessen Eigenschaften. dem nachfolgenden und zweyten, dessen Eigenschaften und Kennzeichen sind theils eine empfindliche Andeutung der Figur und deren Theile, theils eine gezwungene Stellung und Handlung, die in einigen Figuren gewaltsam und übetrieben ist. In der ersten Eigenschaft sind die Muskeln schwülstig erhoben, und liegen wie Hügel, die Knochen sind schneidend gezogen, und allzu sichtbar angegeben, wodurch dieser Stil hart und peinlich wird. Es ist aber zu merken, daß die beyden Arten dieser Eigenschaft, nemlich die starke Andeutung der Muskeln und der Knochen, sich nicht beständig bey- sammen in allerhand Werken dieses Stils finden. In Marmor, weil sich nur göttliche Figuren erhalten haben, sind die Muskeln nicht allezeit sehr gesucht; aber der strenge und harte Schnitt der Muskeln der Wade ist an allen. Ueberhaupt aber kann man als eine Regel festsetzen, daß die Griechen mehr den Ausdruck und die Andeutung der Muskeln, die He- trurier aber der Knochen gesucht; und wenn ich nach dieser Kenntniß einen seltenen und schön geschnittenen Stein beurtheile, und einige Knochen zu stark angegeben sehe, so wäre ich geneigt, denselben für Hetrurisch zu halten, da er im übrigen einem Griechischen Künstler Ehre machen könnte. Es ist derselbe zu Anfange des dritten Stücks des folgenden Capitels gesetzt, und stellet den Theseus vor, wie er die Phäa erschlagen hat, wovon Plutar- chus 1) meldet. Dieser Carniol befand sich noch vor zwanzig Jahren in dem Königlichen Farnesischen Museo zu Capo di Monte in Neapel, ist aber seit der Zeit entwendet worden, wie es vor und nachher mit andern
schönen
1)In Theseo, p. 9. l. 4.
O 3
Von der Kunſt unter den Hetruriern.
Griechenland iſt dieſes von beſagter Zeit in allerley Arten von Wiſſenſchaf- ten gewiß, und es ſcheinet, daß ſich damals auch uͤber andere geſittete Voͤl- ker ein allgemeiner Geiſt ergoſſen, welcher ſonderlich in die Kunſt gewirket, dieſelbe begeiſtert und belebet habe.
Wir gehen alſo von dem erſten und aͤlteren Hetruriſchen Stile zuC. Von dem zweyten Stile der Hetruri- ſchen Kuͤnſtler, und von deſſen Eigenſchaften. dem nachfolgenden und zweyten, deſſen Eigenſchaften und Kennzeichen ſind theils eine empfindliche Andeutung der Figur und deren Theile, theils eine gezwungene Stellung und Handlung, die in einigen Figuren gewaltſam und uͤbetrieben iſt. In der erſten Eigenſchaft ſind die Muskeln ſchwuͤlſtig erhoben, und liegen wie Huͤgel, die Knochen ſind ſchneidend gezogen, und allzu ſichtbar angegeben, wodurch dieſer Stil hart und peinlich wird. Es iſt aber zu merken, daß die beyden Arten dieſer Eigenſchaft, nemlich die ſtarke Andeutung der Muskeln und der Knochen, ſich nicht beſtaͤndig bey- ſammen in allerhand Werken dieſes Stils finden. In Marmor, weil ſich nur goͤttliche Figuren erhalten haben, ſind die Muskeln nicht allezeit ſehr geſucht; aber der ſtrenge und harte Schnitt der Muskeln der Wade iſt an allen. Ueberhaupt aber kann man als eine Regel feſtſetzen, daß die Griechen mehr den Ausdruck und die Andeutung der Muskeln, die He- trurier aber der Knochen geſucht; und wenn ich nach dieſer Kenntniß einen ſeltenen und ſchoͤn geſchnittenen Stein beurtheile, und einige Knochen zu ſtark angegeben ſehe, ſo waͤre ich geneigt, denſelben fuͤr Hetruriſch zu halten, da er im uͤbrigen einem Griechiſchen Kuͤnſtler Ehre machen koͤnnte. Es iſt derſelbe zu Anfange des dritten Stuͤcks des folgenden Capitels geſetzt, und ſtellet den Theſeus vor, wie er die Phaͤa erſchlagen hat, wovon Plutar- chus 1) meldet. Dieſer Carniol befand ſich noch vor zwanzig Jahren in dem Koͤniglichen Farneſiſchen Muſeo zu Capo di Monte in Neapel, iſt aber ſeit der Zeit entwendet worden, wie es vor und nachher mit andern
ſchoͤnen
1)In Theſeo, p. 9. l. 4.
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Von der Kunſt unter den Hetruriern.
Griechenland iſt dieſes von beſagter Zeit in allerley Arten von Wiſſenſchaf-
ten gewiß, und es ſcheinet, daß ſich damals auch uͤber andere geſittete Voͤl-
ker ein allgemeiner Geiſt ergoſſen, welcher ſonderlich in die Kunſt gewirket,
dieſelbe begeiſtert und belebet habe.
Wir gehen alſo von dem erſten und aͤlteren Hetruriſchen Stile zu
dem nachfolgenden und zweyten, deſſen Eigenſchaften und Kennzeichen ſind
theils eine empfindliche Andeutung der Figur und deren Theile, theils eine
gezwungene Stellung und Handlung, die in einigen Figuren gewaltſam
und uͤbetrieben iſt. In der erſten Eigenſchaft ſind die Muskeln ſchwuͤlſtig
erhoben, und liegen wie Huͤgel, die Knochen ſind ſchneidend gezogen, und
allzu ſichtbar angegeben, wodurch dieſer Stil hart und peinlich wird. Es
iſt aber zu merken, daß die beyden Arten dieſer Eigenſchaft, nemlich die
ſtarke Andeutung der Muskeln und der Knochen, ſich nicht beſtaͤndig bey-
ſammen in allerhand Werken dieſes Stils finden. In Marmor, weil
ſich nur goͤttliche Figuren erhalten haben, ſind die Muskeln nicht allezeit
ſehr geſucht; aber der ſtrenge und harte Schnitt der Muskeln der Wade
iſt an allen. Ueberhaupt aber kann man als eine Regel feſtſetzen, daß die
Griechen mehr den Ausdruck und die Andeutung der Muskeln, die He-
trurier aber der Knochen geſucht; und wenn ich nach dieſer Kenntniß einen
ſeltenen und ſchoͤn geſchnittenen Stein beurtheile, und einige Knochen zu ſtark
angegeben ſehe, ſo waͤre ich geneigt, denſelben fuͤr Hetruriſch zu halten,
da er im uͤbrigen einem Griechiſchen Kuͤnſtler Ehre machen koͤnnte. Es iſt
derſelbe zu Anfange des dritten Stuͤcks des folgenden Capitels geſetzt, und
ſtellet den Theſeus vor, wie er die Phaͤa erſchlagen hat, wovon Plutar-
chus 1) meldet. Dieſer Carniol befand ſich noch vor zwanzig Jahren
in dem Koͤniglichen Farneſiſchen Muſeo zu Capo di Monte in Neapel,
iſt aber ſeit der Zeit entwendet worden, wie es vor und nachher mit andern
ſchoͤnen
C.
Von dem
zweyten Stile
der Hetruri-
ſchen Kuͤnſtler,
und von deſſen
Eigenſchaften.
1) In Theſeo, p. 9. l. 4.
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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/159>, abgerufen am 16.02.2025.
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