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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Hetruriern.
die Römer in Bündniß, und sie befriedigten sich, da ihnen das Römische
Bürgerrecht ertheilet wurde. Diese Freyheit, die Pflegerinn der Künste,
und der große Handel der Hetrurier zu Wasser und zu Lande, welcher jene
beschäftigte und nährete, muß unter ihnen eine Nacheiferung mit Künstlern
anderer Völker erwecket haben, sonderlich da der Künstler in allen freyen
Staaten mehr wahre Ehre zu hoffen und zu erlangen hat.

Da aber die Kunst unter diesem Volke die Höhe der Griechi-B.
Die Gemüths-
Art der Hetru-
rier in welcher
die Eigenschaf-
ten der Werke
ihrer Kunst
können gesu-
chet werden.

schen Kunst nicht erreichet hat, und da in den Werken aus ihrer besten
Zeit das Uebertriebene herrschet, so müßte die Ursache hiervon in der Fä-
higkeit dieses Volks selbst zu suchen seyn. Einige Wahrscheinlichkeit giebt
uns die Gemüthsart der Hetrurier, welche mehr, als das Griechische Ge-
blüt, mit Melancholie scheinet vermischt gewesen zu seyn, wie wir aus ihrem
Gottesdienste, und aus ihren Gebräuchen schließen können. Ein solches
Temperament, wovon die größten Leute, wie Aristoteles sagt, ihr Theil
gehabt haben, ist zu tiefen Untersuchungen geschickt, aber es wirket zu hef-
tige Empfindungen, und die Sinne werden nicht mit derjenigen sanften
Regung gerühret, welche den Geist gegen das Schöne vollkommen em-
pfindlich macht. Diese Muthmaßung gründet sich zum ersten auf die
Wahrsagerey, welche in den Abendländern unter diesem Volke zuerst er-
dacht wurde; daher heißt Hetrurien, die Mutter und Gebährerinn des
Aberglaubens 1), und die Schriften dieser Wahrsagung erfülleten diejenigen,
welche sich in denselben Raths erholeten, mit Furcht und Schrecken 2); in
so fürchterlichen Bildern und Worten waren sie abgefasset. Von ihren
Priestern können diejenigen ein Bild geben, welche im 399. Jahre der
Stadt Rom, an der Spitze der Tarquinier 3), mit brennenden Fackeln und
Schlangen die Römer anfielen. Auf diese Gemüthsart könnte man ferner

schließen
1) Arnob. contr. gent. L. 7. p. 232.
2) Cic. de divinat. L. 1. c. 12. p. 25. ed. Davis.
3) Liv. L. 7. c. 17.
L 2

Von der Kunſt unter den Hetruriern.
die Roͤmer in Buͤndniß, und ſie befriedigten ſich, da ihnen das Roͤmiſche
Buͤrgerrecht ertheilet wurde. Dieſe Freyheit, die Pflegerinn der Kuͤnſte,
und der große Handel der Hetrurier zu Waſſer und zu Lande, welcher jene
beſchaͤftigte und naͤhrete, muß unter ihnen eine Nacheiferung mit Kuͤnſtlern
anderer Voͤlker erwecket haben, ſonderlich da der Kuͤnſtler in allen freyen
Staaten mehr wahre Ehre zu hoffen und zu erlangen hat.

Da aber die Kunſt unter dieſem Volke die Hoͤhe der Griechi-B.
Die Gemuͤths-
Art der Hetru-
rier in welcher
die Eigenſchaf-
ten der Werke
ihrer Kunſt
koͤnnen geſu-
chet werden.

ſchen Kunſt nicht erreichet hat, und da in den Werken aus ihrer beſten
Zeit das Uebertriebene herrſchet, ſo muͤßte die Urſache hiervon in der Faͤ-
higkeit dieſes Volks ſelbſt zu ſuchen ſeyn. Einige Wahrſcheinlichkeit giebt
uns die Gemuͤthsart der Hetrurier, welche mehr, als das Griechiſche Ge-
bluͤt, mit Melancholie ſcheinet vermiſcht geweſen zu ſeyn, wie wir aus ihrem
Gottesdienſte, und aus ihren Gebraͤuchen ſchließen koͤnnen. Ein ſolches
Temperament, wovon die groͤßten Leute, wie Ariſtoteles ſagt, ihr Theil
gehabt haben, iſt zu tiefen Unterſuchungen geſchickt, aber es wirket zu hef-
tige Empfindungen, und die Sinne werden nicht mit derjenigen ſanften
Regung geruͤhret, welche den Geiſt gegen das Schoͤne vollkommen em-
pfindlich macht. Dieſe Muthmaßung gruͤndet ſich zum erſten auf die
Wahrſagerey, welche in den Abendlaͤndern unter dieſem Volke zuerſt er-
dacht wurde; daher heißt Hetrurien, die Mutter und Gebaͤhrerinn des
Aberglaubens 1), und die Schriften dieſer Wahrſagung erfuͤlleten diejenigen,
welche ſich in denſelben Raths erholeten, mit Furcht und Schrecken 2); in
ſo fuͤrchterlichen Bildern und Worten waren ſie abgefaſſet. Von ihren
Prieſtern koͤnnen diejenigen ein Bild geben, welche im 399. Jahre der
Stadt Rom, an der Spitze der Tarquinier 3), mit brennenden Fackeln und
Schlangen die Roͤmer anfielen. Auf dieſe Gemuͤthsart koͤnnte man ferner

ſchließen
1) Arnob. contr. gent. L. 7. p. 232.
2) Cic. de divinat. L. 1. c. 12. p. 25. ed. Daviſ.
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[83/0133] Von der Kunſt unter den Hetruriern. die Roͤmer in Buͤndniß, und ſie befriedigten ſich, da ihnen das Roͤmiſche Buͤrgerrecht ertheilet wurde. Dieſe Freyheit, die Pflegerinn der Kuͤnſte, und der große Handel der Hetrurier zu Waſſer und zu Lande, welcher jene beſchaͤftigte und naͤhrete, muß unter ihnen eine Nacheiferung mit Kuͤnſtlern anderer Voͤlker erwecket haben, ſonderlich da der Kuͤnſtler in allen freyen Staaten mehr wahre Ehre zu hoffen und zu erlangen hat. Da aber die Kunſt unter dieſem Volke die Hoͤhe der Griechi- ſchen Kunſt nicht erreichet hat, und da in den Werken aus ihrer beſten Zeit das Uebertriebene herrſchet, ſo muͤßte die Urſache hiervon in der Faͤ- higkeit dieſes Volks ſelbſt zu ſuchen ſeyn. Einige Wahrſcheinlichkeit giebt uns die Gemuͤthsart der Hetrurier, welche mehr, als das Griechiſche Ge- bluͤt, mit Melancholie ſcheinet vermiſcht geweſen zu ſeyn, wie wir aus ihrem Gottesdienſte, und aus ihren Gebraͤuchen ſchließen koͤnnen. Ein ſolches Temperament, wovon die groͤßten Leute, wie Ariſtoteles ſagt, ihr Theil gehabt haben, iſt zu tiefen Unterſuchungen geſchickt, aber es wirket zu hef- tige Empfindungen, und die Sinne werden nicht mit derjenigen ſanften Regung geruͤhret, welche den Geiſt gegen das Schoͤne vollkommen em- pfindlich macht. Dieſe Muthmaßung gruͤndet ſich zum erſten auf die Wahrſagerey, welche in den Abendlaͤndern unter dieſem Volke zuerſt er- dacht wurde; daher heißt Hetrurien, die Mutter und Gebaͤhrerinn des Aberglaubens 1), und die Schriften dieſer Wahrſagung erfuͤlleten diejenigen, welche ſich in denſelben Raths erholeten, mit Furcht und Schrecken 2); in ſo fuͤrchterlichen Bildern und Worten waren ſie abgefaſſet. Von ihren Prieſtern koͤnnen diejenigen ein Bild geben, welche im 399. Jahre der Stadt Rom, an der Spitze der Tarquinier 3), mit brennenden Fackeln und Schlangen die Roͤmer anfielen. Auf dieſe Gemuͤthsart koͤnnte man ferner ſchließen B. Die Gemuͤths- Art der Hetru- rier in welcher die Eigenſchaf- ten der Werke ihrer Kunſt koͤnnen geſu- chet werden. 1) Arnob. contr. gent. L. 7. p. 232. 2) Cic. de divinat. L. 1. c. 12. p. 25. ed. Daviſ. 3) Liv. L. 7. c. 17. L 2

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/133>, abgerufen am 24.11.2024.