Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

I Theil. Zweytes Capitel.
Die Aegypter würden ein solches Werk eben so wenig, als den Menschen,
den ihnen der erste Ptolemäus sehen ließ, welcher auf diese Art 1) halb
weiß und halb schwarz war, geschätzet haben. Zum Beweis meiner Erklä-
rung kann ich eine auf Aegyptische Art, ohne Zweifel von einem Griechischen
Künstler, gearbeitete Statue, von Marmor, anführen. Es ist mehrmal
erwehnter Antinous, wie er in Aegypten verehret worden, welches die
Aehnlichkeit desselben mit den wahren Köpfen dieses Lieblings beweisen
kann: es stand derselbe vermuthlich unter den Aegyptischen Gottheiten in
dem so genannten Canopo in der Villa des Kaisers Hadrianus zu Tivoli,
wo er gefunden worden. Nichts desto weniger hat diese Statue nicht die
Aegyptische Form: denn der Leib ist kürzer und breiter, und außer dem
Stande ist dieselbe völlig nach den Regeln der Griechischen Kunst gearbeitet.
Es bestehet dieselbe aus zwo Hälften, welche unter der Hüfte, und unter
dem Rande des Schurzes zusammengesetzet sind: sie wäre also als eine
Nachahmung der Aegypter auch in diesem Stücke anzusehen. Dieser Weg
zu arbeiten aber, welchen Diodorus angiebt, müßte nur bey einigen Colos-
salischen Statuen gebrauchet worden seyn, weil alle andere Aegyptische
Statuen aus einem Stücke sind. Eben dieser Scribent redet unterdessen
von vielen Aegyptischen Colossen 2) aus einem Stücke, von denen sich
noch bis itzo 3) einige erhalten haben: unter jenen war die Statue Königs
Osymanthya, deren Füße sieben Ellen in der Länge hatten.

Alle übrig gebliebene Aegyptische Figuren sind mit unendlichem Fleiße
geendiget, geglättet und geschliffen, und es ist keine einzige mit dem bloßen
Eisen völlig geendiget, wie einige der besten Griechischen Statuen in Mar-
mor; weil auf diesem Wege dem Granite und dem Basalte keine glatte
Fläche zu geben war. Die Figuren an der Spitze der hohen Obelisken

sind
1) Lucian. Prometh. c. 4. §. 28.
2) L. 1. p. 44. l. 37. p. 44. l. 17. p. 45. l. 20. p. 33. l. 6.
3) Pococke's Deser. of the East, T. 1. p. 106.

I Theil. Zweytes Capitel.
Die Aegypter wuͤrden ein ſolches Werk eben ſo wenig, als den Menſchen,
den ihnen der erſte Ptolemaͤus ſehen ließ, welcher auf dieſe Art 1) halb
weiß und halb ſchwarz war, geſchaͤtzet haben. Zum Beweis meiner Erklaͤ-
rung kann ich eine auf Aegyptiſche Art, ohne Zweifel von einem Griechiſchen
Kuͤnſtler, gearbeitete Statue, von Marmor, anfuͤhren. Es iſt mehrmal
erwehnter Antinous, wie er in Aegypten verehret worden, welches die
Aehnlichkeit deſſelben mit den wahren Koͤpfen dieſes Lieblings beweiſen
kann: es ſtand derſelbe vermuthlich unter den Aegyptiſchen Gottheiten in
dem ſo genannten Canopo in der Villa des Kaiſers Hadrianus zu Tivoli,
wo er gefunden worden. Nichts deſto weniger hat dieſe Statue nicht die
Aegyptiſche Form: denn der Leib iſt kuͤrzer und breiter, und außer dem
Stande iſt dieſelbe voͤllig nach den Regeln der Griechiſchen Kunſt gearbeitet.
Es beſtehet dieſelbe aus zwo Haͤlften, welche unter der Huͤfte, und unter
dem Rande des Schurzes zuſammengeſetzet ſind: ſie waͤre alſo als eine
Nachahmung der Aegypter auch in dieſem Stuͤcke anzuſehen. Dieſer Weg
zu arbeiten aber, welchen Diodorus angiebt, muͤßte nur bey einigen Coloſ-
ſaliſchen Statuen gebrauchet worden ſeyn, weil alle andere Aegyptiſche
Statuen aus einem Stuͤcke ſind. Eben dieſer Scribent redet unterdeſſen
von vielen Aegyptiſchen Coloſſen 2) aus einem Stuͤcke, von denen ſich
noch bis itzo 3) einige erhalten haben: unter jenen war die Statue Koͤnigs
Oſymanthya, deren Fuͤße ſieben Ellen in der Laͤnge hatten.

Alle uͤbrig gebliebene Aegyptiſche Figuren ſind mit unendlichem Fleiße
geendiget, geglaͤttet und geſchliffen, und es iſt keine einzige mit dem bloßen
Eiſen voͤllig geendiget, wie einige der beſten Griechiſchen Statuen in Mar-
mor; weil auf dieſem Wege dem Granite und dem Baſalte keine glatte
Flaͤche zu geben war. Die Figuren an der Spitze der hohen Obelisken

ſind
1) Lucian. Prometh. c. 4. §. 28.
2) L. 1. p. 44. l. 37. p. 44. l. 17. p. 45. l. 20. p. 33. l. 6.
3) Pococke’s Deſer. of the Eaſt, T. 1. p. 106.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0112" n="62"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I</hi> Theil. Zweytes Capitel.</hi></fw><lb/>
Die Aegypter wu&#x0364;rden ein &#x017F;olches Werk eben &#x017F;o wenig, als den Men&#x017F;chen,<lb/>
den ihnen der er&#x017F;te Ptolema&#x0364;us &#x017F;ehen ließ, welcher auf die&#x017F;e Art <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq">Lucian. Prometh. c. 4. §. 28.</hi></note> halb<lb/>
weiß und halb &#x017F;chwarz war, ge&#x017F;cha&#x0364;tzet haben. Zum Beweis meiner Erkla&#x0364;-<lb/>
rung kann ich eine auf Aegypti&#x017F;che Art, ohne Zweifel von einem Griechi&#x017F;chen<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;tler, gearbeitete Statue, von Marmor, anfu&#x0364;hren. Es i&#x017F;t mehrmal<lb/>
erwehnter Antinous, wie er in Aegypten verehret worden, welches die<lb/>
Aehnlichkeit de&#x017F;&#x017F;elben mit den wahren Ko&#x0364;pfen die&#x017F;es Lieblings bewei&#x017F;en<lb/>
kann: es &#x017F;tand der&#x017F;elbe vermuthlich unter den Aegypti&#x017F;chen Gottheiten in<lb/>
dem &#x017F;o genannten Canopo in der Villa des Kai&#x017F;ers Hadrianus zu Tivoli,<lb/>
wo er gefunden worden. Nichts de&#x017F;to weniger hat die&#x017F;e Statue nicht die<lb/>
Aegypti&#x017F;che Form: denn der Leib i&#x017F;t ku&#x0364;rzer und breiter, und außer dem<lb/>
Stande i&#x017F;t die&#x017F;elbe vo&#x0364;llig nach den Regeln der Griechi&#x017F;chen Kun&#x017F;t gearbeitet.<lb/>
Es be&#x017F;tehet die&#x017F;elbe aus zwo Ha&#x0364;lften, welche unter der Hu&#x0364;fte, und unter<lb/>
dem Rande des Schurzes zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzet &#x017F;ind: &#x017F;ie wa&#x0364;re al&#x017F;o als eine<lb/>
Nachahmung der Aegypter auch in die&#x017F;em Stu&#x0364;cke anzu&#x017F;ehen. Die&#x017F;er Weg<lb/>
zu arbeiten aber, welchen Diodorus angiebt, mu&#x0364;ßte nur bey einigen Colo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ali&#x017F;chen Statuen gebrauchet worden &#x017F;eyn, weil alle andere Aegypti&#x017F;che<lb/>
Statuen aus einem Stu&#x0364;cke &#x017F;ind. Eben die&#x017F;er Scribent redet unterde&#x017F;&#x017F;en<lb/>
von vielen Aegypti&#x017F;chen Colo&#x017F;&#x017F;en <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#aq">L. 1. p. 44. l. 37. p. 44. l. 17. p. 45. l. 20. p. 33. l. 6.</hi></note> aus einem Stu&#x0364;cke, von denen &#x017F;ich<lb/>
noch bis itzo <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#aq">Pococke&#x2019;s De&#x017F;er. of the Ea&#x017F;t, T. 1. p. 106.</hi></note> einige erhalten haben: unter jenen war die Statue Ko&#x0364;nigs<lb/>
O&#x017F;ymanthya, deren Fu&#x0364;ße &#x017F;ieben Ellen in der La&#x0364;nge hatten.</p><lb/>
              <p>Alle u&#x0364;brig gebliebene Aegypti&#x017F;che Figuren &#x017F;ind mit unendlichem Fleiße<lb/>
geendiget, gegla&#x0364;ttet und ge&#x017F;chliffen, und es i&#x017F;t keine einzige mit dem bloßen<lb/>
Ei&#x017F;en vo&#x0364;llig geendiget, wie einige der be&#x017F;ten Griechi&#x017F;chen Statuen in Mar-<lb/>
mor; weil auf die&#x017F;em Wege dem Granite und dem Ba&#x017F;alte keine glatte<lb/>
Fla&#x0364;che zu geben war. Die Figuren an der Spitze der hohen Obelisken<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ind</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0112] I Theil. Zweytes Capitel. Die Aegypter wuͤrden ein ſolches Werk eben ſo wenig, als den Menſchen, den ihnen der erſte Ptolemaͤus ſehen ließ, welcher auf dieſe Art 1) halb weiß und halb ſchwarz war, geſchaͤtzet haben. Zum Beweis meiner Erklaͤ- rung kann ich eine auf Aegyptiſche Art, ohne Zweifel von einem Griechiſchen Kuͤnſtler, gearbeitete Statue, von Marmor, anfuͤhren. Es iſt mehrmal erwehnter Antinous, wie er in Aegypten verehret worden, welches die Aehnlichkeit deſſelben mit den wahren Koͤpfen dieſes Lieblings beweiſen kann: es ſtand derſelbe vermuthlich unter den Aegyptiſchen Gottheiten in dem ſo genannten Canopo in der Villa des Kaiſers Hadrianus zu Tivoli, wo er gefunden worden. Nichts deſto weniger hat dieſe Statue nicht die Aegyptiſche Form: denn der Leib iſt kuͤrzer und breiter, und außer dem Stande iſt dieſelbe voͤllig nach den Regeln der Griechiſchen Kunſt gearbeitet. Es beſtehet dieſelbe aus zwo Haͤlften, welche unter der Huͤfte, und unter dem Rande des Schurzes zuſammengeſetzet ſind: ſie waͤre alſo als eine Nachahmung der Aegypter auch in dieſem Stuͤcke anzuſehen. Dieſer Weg zu arbeiten aber, welchen Diodorus angiebt, muͤßte nur bey einigen Coloſ- ſaliſchen Statuen gebrauchet worden ſeyn, weil alle andere Aegyptiſche Statuen aus einem Stuͤcke ſind. Eben dieſer Scribent redet unterdeſſen von vielen Aegyptiſchen Coloſſen 2) aus einem Stuͤcke, von denen ſich noch bis itzo 3) einige erhalten haben: unter jenen war die Statue Koͤnigs Oſymanthya, deren Fuͤße ſieben Ellen in der Laͤnge hatten. Alle uͤbrig gebliebene Aegyptiſche Figuren ſind mit unendlichem Fleiße geendiget, geglaͤttet und geſchliffen, und es iſt keine einzige mit dem bloßen Eiſen voͤllig geendiget, wie einige der beſten Griechiſchen Statuen in Mar- mor; weil auf dieſem Wege dem Granite und dem Baſalte keine glatte Flaͤche zu geben war. Die Figuren an der Spitze der hohen Obelisken ſind 1) Lucian. Prometh. c. 4. §. 28. 2) L. 1. p. 44. l. 37. p. 44. l. 17. p. 45. l. 20. p. 33. l. 6. 3) Pococke’s Deſer. of the Eaſt, T. 1. p. 106.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/112
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/112>, abgerufen am 27.11.2024.