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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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zwingen sein Wille allein nicht vermögend war. In solchen Augenblicken schwur er ihr Liebe, Treue, Anbetung bis in den Tod, das sie über seine Aufregung erschrak. Er klammerte sich an sie an, wie der Ertrinkende an die Planke, von welcher er allein noch Rettung hoffen kann. Aber um Leonie wehte eine Atmosphäre üppig glühender Leidenschaft, die alle seine Sinne dahin riß, in der er Himmel und Erde und alle geleisteten Schwure vergaß, und die doch keine Labung mit sich brachte. Denn wie sollte er sie finden in einer Liebe, die wider alle seine Begriffe von Recht und Unrecht stritt. Wehe aber dem Menschen, der mit offenen Augen einem Abgrund zugetrieben wird. Die völlige Blindheit wäre besser, als diese Sehkraft, die ihm doch nicht helfen kann!

Da war es ein kleiner unbedeutender Vorfall, der Allem plötzlich eine andere Wendung gab.

Louis hatte die Gräfin seit Wochen nicht gesehen. Da überfiel ihn eine unendliche Sehnsucht, wenigstens von Weitem eine Spur ihres Lebens zu erspähen. Es war Abends, und er wollte zu Marie, die ihn wie gewöhnlich erwartete, aber er konnte den kleinen Umweg machen ohne sich besonders zu verspäten, und so bog er, von dem unwiderstehlichen Zuge seines Herzens geführt, halb unbewusst von seinem Wege ab und blieb nach wenigen Minuten vor dem Hause der Gräfin stehen. Er blickte hinauf; die Fenster waren hell beleuchtet; eine zahlreiche Gesellschaft schien sich in den Raumen zu bewegen, er konnte die Gestalten unterscheiden, die wechselnd an den Scheiben vorüber schwebten, Leonie aber sah er nicht. Bevor er es bedacht, hatte er den Fuß auf die Treppe gesetzt; nur einen Augenblick wollte er sie sehen, sagte er sich, und von so Vielen umgeben, wo war da eine Gefahr? In dem letzten Salon wurde getanzt. Es war ein improvisirter Ball bei Klavierbegleitung, dessen Beweglichkeit und Freude lebhaft gegen Louis' düstere Stimmung abstach. Unter

zwingen sein Wille allein nicht vermögend war. In solchen Augenblicken schwur er ihr Liebe, Treue, Anbetung bis in den Tod, das sie über seine Aufregung erschrak. Er klammerte sich an sie an, wie der Ertrinkende an die Planke, von welcher er allein noch Rettung hoffen kann. Aber um Leonie wehte eine Atmosphäre üppig glühender Leidenschaft, die alle seine Sinne dahin riß, in der er Himmel und Erde und alle geleisteten Schwure vergaß, und die doch keine Labung mit sich brachte. Denn wie sollte er sie finden in einer Liebe, die wider alle seine Begriffe von Recht und Unrecht stritt. Wehe aber dem Menschen, der mit offenen Augen einem Abgrund zugetrieben wird. Die völlige Blindheit wäre besser, als diese Sehkraft, die ihm doch nicht helfen kann!

Da war es ein kleiner unbedeutender Vorfall, der Allem plötzlich eine andere Wendung gab.

Louis hatte die Gräfin seit Wochen nicht gesehen. Da überfiel ihn eine unendliche Sehnsucht, wenigstens von Weitem eine Spur ihres Lebens zu erspähen. Es war Abends, und er wollte zu Marie, die ihn wie gewöhnlich erwartete, aber er konnte den kleinen Umweg machen ohne sich besonders zu verspäten, und so bog er, von dem unwiderstehlichen Zuge seines Herzens geführt, halb unbewusst von seinem Wege ab und blieb nach wenigen Minuten vor dem Hause der Gräfin stehen. Er blickte hinauf; die Fenster waren hell beleuchtet; eine zahlreiche Gesellschaft schien sich in den Raumen zu bewegen, er konnte die Gestalten unterscheiden, die wechselnd an den Scheiben vorüber schwebten, Leonie aber sah er nicht. Bevor er es bedacht, hatte er den Fuß auf die Treppe gesetzt; nur einen Augenblick wollte er sie sehen, sagte er sich, und von so Vielen umgeben, wo war da eine Gefahr? In dem letzten Salon wurde getanzt. Es war ein improvisirter Ball bei Klavierbegleitung, dessen Beweglichkeit und Freude lebhaft gegen Louis' düstere Stimmung abstach. Unter

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[0088] zwingen sein Wille allein nicht vermögend war. In solchen Augenblicken schwur er ihr Liebe, Treue, Anbetung bis in den Tod, das sie über seine Aufregung erschrak. Er klammerte sich an sie an, wie der Ertrinkende an die Planke, von welcher er allein noch Rettung hoffen kann. Aber um Leonie wehte eine Atmosphäre üppig glühender Leidenschaft, die alle seine Sinne dahin riß, in der er Himmel und Erde und alle geleisteten Schwure vergaß, und die doch keine Labung mit sich brachte. Denn wie sollte er sie finden in einer Liebe, die wider alle seine Begriffe von Recht und Unrecht stritt. Wehe aber dem Menschen, der mit offenen Augen einem Abgrund zugetrieben wird. Die völlige Blindheit wäre besser, als diese Sehkraft, die ihm doch nicht helfen kann! Da war es ein kleiner unbedeutender Vorfall, der Allem plötzlich eine andere Wendung gab. Louis hatte die Gräfin seit Wochen nicht gesehen. Da überfiel ihn eine unendliche Sehnsucht, wenigstens von Weitem eine Spur ihres Lebens zu erspähen. Es war Abends, und er wollte zu Marie, die ihn wie gewöhnlich erwartete, aber er konnte den kleinen Umweg machen ohne sich besonders zu verspäten, und so bog er, von dem unwiderstehlichen Zuge seines Herzens geführt, halb unbewusst von seinem Wege ab und blieb nach wenigen Minuten vor dem Hause der Gräfin stehen. Er blickte hinauf; die Fenster waren hell beleuchtet; eine zahlreiche Gesellschaft schien sich in den Raumen zu bewegen, er konnte die Gestalten unterscheiden, die wechselnd an den Scheiben vorüber schwebten, Leonie aber sah er nicht. Bevor er es bedacht, hatte er den Fuß auf die Treppe gesetzt; nur einen Augenblick wollte er sie sehen, sagte er sich, und von so Vielen umgeben, wo war da eine Gefahr? In dem letzten Salon wurde getanzt. Es war ein improvisirter Ball bei Klavierbegleitung, dessen Beweglichkeit und Freude lebhaft gegen Louis' düstere Stimmung abstach. Unter

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/88>, abgerufen am 27.11.2024.