Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Neuem mit der Lebendigkeit der Gegenwart ein, und wieder und wieder gelobte er sich, stark zu sein. -- Armes Herz, das da glaubte rechten zu können mit dem blinden Zuge der Leidenschaft! Leonie nicht mehr sehen, war eine ganz andere Aufgabe, als da er Marien zu entsagen versuchte! So tief hatte das reine Mädchen nicht in sein innerstes Wesen gegriffen, so gewaltig hatte sich nicht Alles aufgewühlt, was von dem Sauerteig der Sünde in ihm verborgen lag, wie die blonde, scheinbar so zerbrechliche Zauberin, von der er nicht einmal mit Bestimmtheit wußte, ob sie ihn je genau angesehen. Mit dem scharfen Seherblick der Liebe hatte er die Corruption richtig erkannt, die unter dem glänzenden Firnis der Liebenswürdigkeit die Seelenadern der jungen Frau durchzog, und ach! noch verstand er es selber nicht, aber es war eben diese Corruption, die ihn am mächtigsten zu ihr zog. Vergebens war sein Sträuben; zum ersten Male in seinem Leben fühlte er deutlich, das Können und Wollen zwei von einander ganz verschiedene Dinge sind. Was er für Liebe gehalten, war nicht Liebe gewesen, und was er jetzt als Liebe empfand, stimmte mit seiner inneren Erkenntnis derselben nicht überein. Ein tiefes Elend bemächtigte sich seiner; was ihm bis jetzt die Quelle alles zukünftigen Glückes gewesen war, das fühlte er sich plötzlich versucht als die seines Unglückes anzusehen, und was sollte aus ihm werden, wenn er erst unwiederbringlich gebunden war. Und doch schätzte er Marie. Sie war ihm lieb und Werth; ja, sie stand ihm jetzt, wo ihre klare Ruhe so sehr gegen die Gährung in seiner eigenen Seele abstach, näher, als sie ihm je gestanden war. Konnte Achtung Liebe sein, wie hatte er sie nicht geliebt! Manchmal dachte er sich, den Kopf in ihrem Schoße ruhend, unter ihren kühlen Händen, von ihrem reinen Blicke beschützt, mußten die heißen Pulsschlage stocken, die er von seinem Vater geerbt, und die zur Ruhe zu Neuem mit der Lebendigkeit der Gegenwart ein, und wieder und wieder gelobte er sich, stark zu sein. — Armes Herz, das da glaubte rechten zu können mit dem blinden Zuge der Leidenschaft! Leonie nicht mehr sehen, war eine ganz andere Aufgabe, als da er Marien zu entsagen versuchte! So tief hatte das reine Mädchen nicht in sein innerstes Wesen gegriffen, so gewaltig hatte sich nicht Alles aufgewühlt, was von dem Sauerteig der Sünde in ihm verborgen lag, wie die blonde, scheinbar so zerbrechliche Zauberin, von der er nicht einmal mit Bestimmtheit wußte, ob sie ihn je genau angesehen. Mit dem scharfen Seherblick der Liebe hatte er die Corruption richtig erkannt, die unter dem glänzenden Firnis der Liebenswürdigkeit die Seelenadern der jungen Frau durchzog, und ach! noch verstand er es selber nicht, aber es war eben diese Corruption, die ihn am mächtigsten zu ihr zog. Vergebens war sein Sträuben; zum ersten Male in seinem Leben fühlte er deutlich, das Können und Wollen zwei von einander ganz verschiedene Dinge sind. Was er für Liebe gehalten, war nicht Liebe gewesen, und was er jetzt als Liebe empfand, stimmte mit seiner inneren Erkenntnis derselben nicht überein. Ein tiefes Elend bemächtigte sich seiner; was ihm bis jetzt die Quelle alles zukünftigen Glückes gewesen war, das fühlte er sich plötzlich versucht als die seines Unglückes anzusehen, und was sollte aus ihm werden, wenn er erst unwiederbringlich gebunden war. Und doch schätzte er Marie. Sie war ihm lieb und Werth; ja, sie stand ihm jetzt, wo ihre klare Ruhe so sehr gegen die Gährung in seiner eigenen Seele abstach, näher, als sie ihm je gestanden war. Konnte Achtung Liebe sein, wie hatte er sie nicht geliebt! Manchmal dachte er sich, den Kopf in ihrem Schoße ruhend, unter ihren kühlen Händen, von ihrem reinen Blicke beschützt, mußten die heißen Pulsschlage stocken, die er von seinem Vater geerbt, und die zur Ruhe zu <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0087"/> Neuem mit der Lebendigkeit der Gegenwart ein, und wieder und wieder gelobte er sich, stark zu sein. — Armes Herz, das da glaubte rechten zu können mit dem blinden Zuge der Leidenschaft! 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Was er für Liebe gehalten, war nicht Liebe gewesen, und was er jetzt als Liebe empfand, stimmte mit seiner inneren Erkenntnis derselben nicht überein. Ein tiefes Elend bemächtigte sich seiner; was ihm bis jetzt die Quelle alles zukünftigen Glückes gewesen war, das fühlte er sich plötzlich versucht als die seines Unglückes anzusehen, und was sollte aus ihm werden, wenn er erst unwiederbringlich gebunden war.</p><lb/> <p>Und doch schätzte er Marie. Sie war ihm lieb und Werth; ja, sie stand ihm jetzt, wo ihre klare Ruhe so sehr gegen die Gährung in seiner eigenen Seele abstach, näher, als sie ihm je gestanden war. Konnte Achtung Liebe sein, wie hatte er sie nicht geliebt! Manchmal dachte er sich, den Kopf in ihrem Schoße ruhend, unter ihren kühlen Händen, von ihrem reinen Blicke beschützt, mußten die heißen Pulsschlage stocken, die er von seinem Vater geerbt, und die zur Ruhe zu<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0087]
Neuem mit der Lebendigkeit der Gegenwart ein, und wieder und wieder gelobte er sich, stark zu sein. — Armes Herz, das da glaubte rechten zu können mit dem blinden Zuge der Leidenschaft! Leonie nicht mehr sehen, war eine ganz andere Aufgabe, als da er Marien zu entsagen versuchte!
So tief hatte das reine Mädchen nicht in sein innerstes Wesen gegriffen, so gewaltig hatte sich nicht Alles aufgewühlt, was von dem Sauerteig der Sünde in ihm verborgen lag, wie die blonde, scheinbar so zerbrechliche Zauberin, von der er nicht einmal mit Bestimmtheit wußte, ob sie ihn je genau angesehen. Mit dem scharfen Seherblick der Liebe hatte er die Corruption richtig erkannt, die unter dem glänzenden Firnis der Liebenswürdigkeit die Seelenadern der jungen Frau durchzog, und ach! noch verstand er es selber nicht, aber es war eben diese Corruption, die ihn am mächtigsten zu ihr zog. Vergebens war sein Sträuben; zum ersten Male in seinem Leben fühlte er deutlich, das Können und Wollen zwei von einander ganz verschiedene Dinge sind. Was er für Liebe gehalten, war nicht Liebe gewesen, und was er jetzt als Liebe empfand, stimmte mit seiner inneren Erkenntnis derselben nicht überein. Ein tiefes Elend bemächtigte sich seiner; was ihm bis jetzt die Quelle alles zukünftigen Glückes gewesen war, das fühlte er sich plötzlich versucht als die seines Unglückes anzusehen, und was sollte aus ihm werden, wenn er erst unwiederbringlich gebunden war.
Und doch schätzte er Marie. Sie war ihm lieb und Werth; ja, sie stand ihm jetzt, wo ihre klare Ruhe so sehr gegen die Gährung in seiner eigenen Seele abstach, näher, als sie ihm je gestanden war. Konnte Achtung Liebe sein, wie hatte er sie nicht geliebt! Manchmal dachte er sich, den Kopf in ihrem Schoße ruhend, unter ihren kühlen Händen, von ihrem reinen Blicke beschützt, mußten die heißen Pulsschlage stocken, die er von seinem Vater geerbt, und die zur Ruhe zu
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