Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.kommt gewiß und lös't es mild und schonend von uns ab. Vergänglichkeit ist eben Alles -- Alles -- auch Schmerz und Zorn und Hass, und Nichts ist und war, als Vergänglichkeit, die uns, wie Alles, mit Allem was wir sind in die Vergessenheit treibt. -- Ja, setzte er nach einer Pause kaum hörbar hinzu, Alles vergeht, nur nicht die Erinnerung an das Blut, das man vergoß. Er war angekommen und stieg aus. Otto kam ihm bald nach. Auch er war traurig. Der gute Junge hatte, was man übereingekommen ist "ein deutsches Gemüth" zu nennen. Es zeigte sich aber heute auf eine Art, die sonst in Deutschland nicht sehr gebräuchlich ist. Er hatte nämlich die Schwäche, seine Schwester, die ihn auch stets als einen sehr unwichtigen Gegenstand behandelt hatte, weit zärtlicher zu lieben, als deutsche Brüder, im gewöhnlichen Lauf der Welt, ihre Schwestern zu lieben für nöthig erachten, und er kam jetzt zum Vater, um an ihm ein theilnehmendes Herz zu finden für die Trauer der Trennung, die auf seiner Seele lag, und die er seinen Altersgenossen gegenüber einzugestehen aus einer gewissen falschen Scham und angeborenen Schüchternheit Anstand nahm. Aber zu einem empfindsamen Seelenerguß war der Gruß doch nicht aufgelegt, und beim Anblick seines Sohnes gingen seine Gedanken auf einen Pfad über, der ihm weit natürlicher und anziehender war: nämlich auf diesen Sohn selbst, den einzigen Gegenstand, um den sein von menschlichen Banden früh losgerissenes Herz noch tief die lebendigen Fasern der Liebe schlug. Daß er dennoch das geliebtere Kind Jahre lang von sich entfernte und das ungeliebte unter seinen Augen behielt, ist eines jener Räthsel, deren Schlüssel tief in der Brust des Menschen verborgen sind. Vielleicht war es das Bewusstsein dieser Lieblosigkeit selbst, was ihn bewog ein Opfer zu bringen, das er für eine Art Sühne dieser Lieblosigkeit ansah und eine Ergän- kommt gewiß und lös't es mild und schonend von uns ab. Vergänglichkeit ist eben Alles — Alles — auch Schmerz und Zorn und Hass, und Nichts ist und war, als Vergänglichkeit, die uns, wie Alles, mit Allem was wir sind in die Vergessenheit treibt. — Ja, setzte er nach einer Pause kaum hörbar hinzu, Alles vergeht, nur nicht die Erinnerung an das Blut, das man vergoß. Er war angekommen und stieg aus. Otto kam ihm bald nach. Auch er war traurig. Der gute Junge hatte, was man übereingekommen ist „ein deutsches Gemüth“ zu nennen. Es zeigte sich aber heute auf eine Art, die sonst in Deutschland nicht sehr gebräuchlich ist. Er hatte nämlich die Schwäche, seine Schwester, die ihn auch stets als einen sehr unwichtigen Gegenstand behandelt hatte, weit zärtlicher zu lieben, als deutsche Brüder, im gewöhnlichen Lauf der Welt, ihre Schwestern zu lieben für nöthig erachten, und er kam jetzt zum Vater, um an ihm ein theilnehmendes Herz zu finden für die Trauer der Trennung, die auf seiner Seele lag, und die er seinen Altersgenossen gegenüber einzugestehen aus einer gewissen falschen Scham und angeborenen Schüchternheit Anstand nahm. Aber zu einem empfindsamen Seelenerguß war der Gruß doch nicht aufgelegt, und beim Anblick seines Sohnes gingen seine Gedanken auf einen Pfad über, der ihm weit natürlicher und anziehender war: nämlich auf diesen Sohn selbst, den einzigen Gegenstand, um den sein von menschlichen Banden früh losgerissenes Herz noch tief die lebendigen Fasern der Liebe schlug. Daß er dennoch das geliebtere Kind Jahre lang von sich entfernte und das ungeliebte unter seinen Augen behielt, ist eines jener Räthsel, deren Schlüssel tief in der Brust des Menschen verborgen sind. Vielleicht war es das Bewusstsein dieser Lieblosigkeit selbst, was ihn bewog ein Opfer zu bringen, das er für eine Art Sühne dieser Lieblosigkeit ansah und eine Ergän- <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0059"/> kommt gewiß und lös't es mild und schonend von uns ab. Vergänglichkeit ist eben Alles — Alles — auch Schmerz und Zorn und Hass, und Nichts ist und war, als Vergänglichkeit, die uns, wie Alles, mit Allem was wir sind in die Vergessenheit treibt. — Ja, setzte er nach einer Pause kaum hörbar hinzu, Alles vergeht, nur nicht die Erinnerung an das Blut, das man vergoß.</p><lb/> <p>Er war angekommen und stieg aus. Otto kam ihm bald nach. Auch er war traurig. Der gute Junge hatte, was man übereingekommen ist „ein deutsches Gemüth“ zu nennen. 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Aber zu einem empfindsamen Seelenerguß war der Gruß doch nicht aufgelegt, und beim Anblick seines Sohnes gingen seine Gedanken auf einen Pfad über, der ihm weit natürlicher und anziehender war: nämlich auf diesen Sohn selbst, den einzigen Gegenstand, um den sein von menschlichen Banden früh losgerissenes Herz noch tief die lebendigen Fasern der Liebe schlug.</p><lb/> <p>Daß er dennoch das geliebtere Kind Jahre lang von sich entfernte und das ungeliebte unter seinen Augen behielt, ist eines jener Räthsel, deren Schlüssel tief in der Brust des Menschen verborgen sind. Vielleicht war es das Bewusstsein dieser Lieblosigkeit selbst, was ihn bewog ein Opfer zu bringen, das er für eine Art Sühne dieser Lieblosigkeit ansah und eine Ergän-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0059]
kommt gewiß und lös't es mild und schonend von uns ab. Vergänglichkeit ist eben Alles — Alles — auch Schmerz und Zorn und Hass, und Nichts ist und war, als Vergänglichkeit, die uns, wie Alles, mit Allem was wir sind in die Vergessenheit treibt. — Ja, setzte er nach einer Pause kaum hörbar hinzu, Alles vergeht, nur nicht die Erinnerung an das Blut, das man vergoß.
Er war angekommen und stieg aus. Otto kam ihm bald nach. Auch er war traurig. Der gute Junge hatte, was man übereingekommen ist „ein deutsches Gemüth“ zu nennen. Es zeigte sich aber heute auf eine Art, die sonst in Deutschland nicht sehr gebräuchlich ist. Er hatte nämlich die Schwäche, seine Schwester, die ihn auch stets als einen sehr unwichtigen Gegenstand behandelt hatte, weit zärtlicher zu lieben, als deutsche Brüder, im gewöhnlichen Lauf der Welt, ihre Schwestern zu lieben für nöthig erachten, und er kam jetzt zum Vater, um an ihm ein theilnehmendes Herz zu finden für die Trauer der Trennung, die auf seiner Seele lag, und die er seinen Altersgenossen gegenüber einzugestehen aus einer gewissen falschen Scham und angeborenen Schüchternheit Anstand nahm. Aber zu einem empfindsamen Seelenerguß war der Gruß doch nicht aufgelegt, und beim Anblick seines Sohnes gingen seine Gedanken auf einen Pfad über, der ihm weit natürlicher und anziehender war: nämlich auf diesen Sohn selbst, den einzigen Gegenstand, um den sein von menschlichen Banden früh losgerissenes Herz noch tief die lebendigen Fasern der Liebe schlug.
Daß er dennoch das geliebtere Kind Jahre lang von sich entfernte und das ungeliebte unter seinen Augen behielt, ist eines jener Räthsel, deren Schlüssel tief in der Brust des Menschen verborgen sind. Vielleicht war es das Bewusstsein dieser Lieblosigkeit selbst, was ihn bewog ein Opfer zu bringen, das er für eine Art Sühne dieser Lieblosigkeit ansah und eine Ergän-
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Zitationshilfe: | Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/59>, abgerufen am 16.07.2024. |