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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Glück noch Segen gebracht. Vergiss nicht, das die Schönheit des Weibes nur für den Mann blühen soll, der Schmuck seines Hauses und die Freude seines Herzens, und das sie darüber nicht hinausgehen darf. Du gehst heute von mir -- gehe zum Glücke -- du kannst es, wenn du es nur ernstlich willst. Ich war manchmal hart gegen dich -- habe ich dir Unrecht gethan, so verzeihe mir. Dein Herz war mir ein verschlossenes Buch. Laß es einem Andern nicht also sein! Denke ohne Groll an deine Kinderjahre zurück. -- Gerührt beugte er sich zu ihr herab, es war das erste Mal in ihrem Leben, das Leonie sich erinnern konnte, seine Lippen auf ihrer Stirn gefühlt zu haben, und es durchschauerte sie fast, als mit dem Kusse eine warme Thräne darauf lag. Aber die Erinnerung an ihre Mutter war nicht geeignet, ihr das Herz zu erweichen. Schweigend führte sie seine Hand an ihre Lippen und nahm ruhig den kostbaren Schmuck entgegen, den er ihr bot.

Als er von dem Portal der Kirche einsam dem wegrollenden Wagen nachblickte, der sie einer ungewissen Zukunft entgegen trug, da zog eine seltsame Wehmuth durch sein Herz. Er hatte sie aufwachsen sehen, er hatte die köstliche Blüte ihrer Schönheit sich langsam unter seinen Augen entfalten sehen, in all dem mystischen Zauber, der ihr so eigen war, und der sie so sehr von anderen Frauen unterschied; sie war so lange die Zierde seines Hauses gewesen, und sie vor jedem Unglück zu bewahren, hatte so lang einen Theil seines Lebens ausgemacht, das, was auch immer zwischen ihnen stand, wie fremd auch ihre Herzen für einander geblieben, ihr Scheiden dennoch eine Lücke in sein Dasein riß. So fällt das Alte allmählich von uns weg, dachte er, als er allein in seinem Wagen langsamen Schrittes dem vereinsamten Hause zufuhr. Auch das letzte Glied der Kette, die mich so lange gedrückt, ist gebrochen, und kaum weiß ich, soll ich mich darüber freuen? Was nutzt die Ungeduld? Es kommt die Zeit -- die Zeit

Glück noch Segen gebracht. Vergiss nicht, das die Schönheit des Weibes nur für den Mann blühen soll, der Schmuck seines Hauses und die Freude seines Herzens, und das sie darüber nicht hinausgehen darf. Du gehst heute von mir — gehe zum Glücke — du kannst es, wenn du es nur ernstlich willst. Ich war manchmal hart gegen dich — habe ich dir Unrecht gethan, so verzeihe mir. Dein Herz war mir ein verschlossenes Buch. Laß es einem Andern nicht also sein! Denke ohne Groll an deine Kinderjahre zurück. — Gerührt beugte er sich zu ihr herab, es war das erste Mal in ihrem Leben, das Leonie sich erinnern konnte, seine Lippen auf ihrer Stirn gefühlt zu haben, und es durchschauerte sie fast, als mit dem Kusse eine warme Thräne darauf lag. Aber die Erinnerung an ihre Mutter war nicht geeignet, ihr das Herz zu erweichen. Schweigend führte sie seine Hand an ihre Lippen und nahm ruhig den kostbaren Schmuck entgegen, den er ihr bot.

Als er von dem Portal der Kirche einsam dem wegrollenden Wagen nachblickte, der sie einer ungewissen Zukunft entgegen trug, da zog eine seltsame Wehmuth durch sein Herz. Er hatte sie aufwachsen sehen, er hatte die köstliche Blüte ihrer Schönheit sich langsam unter seinen Augen entfalten sehen, in all dem mystischen Zauber, der ihr so eigen war, und der sie so sehr von anderen Frauen unterschied; sie war so lange die Zierde seines Hauses gewesen, und sie vor jedem Unglück zu bewahren, hatte so lang einen Theil seines Lebens ausgemacht, das, was auch immer zwischen ihnen stand, wie fremd auch ihre Herzen für einander geblieben, ihr Scheiden dennoch eine Lücke in sein Dasein riß. So fällt das Alte allmählich von uns weg, dachte er, als er allein in seinem Wagen langsamen Schrittes dem vereinsamten Hause zufuhr. Auch das letzte Glied der Kette, die mich so lange gedrückt, ist gebrochen, und kaum weiß ich, soll ich mich darüber freuen? Was nutzt die Ungeduld? Es kommt die Zeit — die Zeit

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[0058] Glück noch Segen gebracht. Vergiss nicht, das die Schönheit des Weibes nur für den Mann blühen soll, der Schmuck seines Hauses und die Freude seines Herzens, und das sie darüber nicht hinausgehen darf. Du gehst heute von mir — gehe zum Glücke — du kannst es, wenn du es nur ernstlich willst. Ich war manchmal hart gegen dich — habe ich dir Unrecht gethan, so verzeihe mir. Dein Herz war mir ein verschlossenes Buch. Laß es einem Andern nicht also sein! Denke ohne Groll an deine Kinderjahre zurück. — Gerührt beugte er sich zu ihr herab, es war das erste Mal in ihrem Leben, das Leonie sich erinnern konnte, seine Lippen auf ihrer Stirn gefühlt zu haben, und es durchschauerte sie fast, als mit dem Kusse eine warme Thräne darauf lag. Aber die Erinnerung an ihre Mutter war nicht geeignet, ihr das Herz zu erweichen. Schweigend führte sie seine Hand an ihre Lippen und nahm ruhig den kostbaren Schmuck entgegen, den er ihr bot. Als er von dem Portal der Kirche einsam dem wegrollenden Wagen nachblickte, der sie einer ungewissen Zukunft entgegen trug, da zog eine seltsame Wehmuth durch sein Herz. Er hatte sie aufwachsen sehen, er hatte die köstliche Blüte ihrer Schönheit sich langsam unter seinen Augen entfalten sehen, in all dem mystischen Zauber, der ihr so eigen war, und der sie so sehr von anderen Frauen unterschied; sie war so lange die Zierde seines Hauses gewesen, und sie vor jedem Unglück zu bewahren, hatte so lang einen Theil seines Lebens ausgemacht, das, was auch immer zwischen ihnen stand, wie fremd auch ihre Herzen für einander geblieben, ihr Scheiden dennoch eine Lücke in sein Dasein riß. So fällt das Alte allmählich von uns weg, dachte er, als er allein in seinem Wagen langsamen Schrittes dem vereinsamten Hause zufuhr. Auch das letzte Glied der Kette, die mich so lange gedrückt, ist gebrochen, und kaum weiß ich, soll ich mich darüber freuen? Was nutzt die Ungeduld? Es kommt die Zeit — die Zeit

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/58>, abgerufen am 23.11.2024.