Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

im Theater, die Musik brauste, die Melodieen schmolzen in einander, süß, weich und verlockend, und der Blick des Unbekannten umwebte sie mit einem entnervenden Netz. Mit Gewalt riß sie sich los und nahm die Feder wieder auf, aber kein Gedanke wollte kommen, und sie schleuderte sie zornig weg. Hatte sie denn nicht mehr Gewalt über sich? Sie stand auf, sie stützte die Hand auf den Tisch und sah finster vor sich nieder.

Ich bin mein eigener Herr, sagte sie zürnend und wie drohend dem Bild entgegentretend, das hartnäckig vor ihrem inneren Auge stand. Wer wird mich zwingen zu fühlen, was ich nicht fühlen will? Hinweg mit dieser Thorheit! mein Weg liegt klar von mir, und wer wird sagen, daß ich ihn nicht gehen soll? -- Sie läutete ihrem Mädchen und ließ sich entkleiden, und welcher Art auch die Träume waren, die in dieser Nacht sie umschwebten, ihr Wille stand fest, es war der unbeugsame Wille, den sie von ihrer Mutter geerbt.

Doch so leichten Kaufes sollte sie der Gefahr nicht entgehen. War es eine Warnung, die ihr der Himmel gab? Wohin sie ging, begegnete sie dem Fremden; es war, als führe eine unsichtbare Hand ihn ihr immer in den Weg. Er suchte sich ihr nicht zu nähern, nicht einmal sein Name wurde ihr genannt, und sie wich jeder Gelegenheit dazu mit Sorgfalt aus. Aber immer übten seine Blicke auf sie dieselbe magnetische Kraft aus, der sie sich nicht zu entringen wußte. Allein wir wissen es, Leonie war nicht diejenige, die sich durch solche Eingebungen leiten ließ, und der Empfindung, die sie nicht ganz ersticken konnte, trat sie entgegen mit einer Art von Haß.

Da trat die Versuchung plötzlich von einer Seite an sie heran, wo sie am wenigsten darauf vorbereitet war.

Auf einem Balle, den sie kurze Zeit nach ihrer Verlobung, noch immer unter Fräulein Bertold's tugendhaftem Schutz, besuchte, hatte sie sich, um von dem

im Theater, die Musik brauste, die Melodieen schmolzen in einander, süß, weich und verlockend, und der Blick des Unbekannten umwebte sie mit einem entnervenden Netz. Mit Gewalt riß sie sich los und nahm die Feder wieder auf, aber kein Gedanke wollte kommen, und sie schleuderte sie zornig weg. Hatte sie denn nicht mehr Gewalt über sich? Sie stand auf, sie stützte die Hand auf den Tisch und sah finster vor sich nieder.

Ich bin mein eigener Herr, sagte sie zürnend und wie drohend dem Bild entgegentretend, das hartnäckig vor ihrem inneren Auge stand. Wer wird mich zwingen zu fühlen, was ich nicht fühlen will? Hinweg mit dieser Thorheit! mein Weg liegt klar von mir, und wer wird sagen, daß ich ihn nicht gehen soll? — Sie läutete ihrem Mädchen und ließ sich entkleiden, und welcher Art auch die Träume waren, die in dieser Nacht sie umschwebten, ihr Wille stand fest, es war der unbeugsame Wille, den sie von ihrer Mutter geerbt.

Doch so leichten Kaufes sollte sie der Gefahr nicht entgehen. War es eine Warnung, die ihr der Himmel gab? Wohin sie ging, begegnete sie dem Fremden; es war, als führe eine unsichtbare Hand ihn ihr immer in den Weg. Er suchte sich ihr nicht zu nähern, nicht einmal sein Name wurde ihr genannt, und sie wich jeder Gelegenheit dazu mit Sorgfalt aus. Aber immer übten seine Blicke auf sie dieselbe magnetische Kraft aus, der sie sich nicht zu entringen wußte. Allein wir wissen es, Leonie war nicht diejenige, die sich durch solche Eingebungen leiten ließ, und der Empfindung, die sie nicht ganz ersticken konnte, trat sie entgegen mit einer Art von Haß.

Da trat die Versuchung plötzlich von einer Seite an sie heran, wo sie am wenigsten darauf vorbereitet war.

Auf einem Balle, den sie kurze Zeit nach ihrer Verlobung, noch immer unter Fräulein Bertold's tugendhaftem Schutz, besuchte, hatte sie sich, um von dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0052"/>
im Theater, die Musik brauste, die Melodieen schmolzen in      einander, süß, weich und verlockend, und der Blick des Unbekannten umwebte sie mit einem      entnervenden Netz. Mit Gewalt riß sie sich los und nahm die Feder wieder auf, aber kein Gedanke      wollte kommen, und sie schleuderte sie zornig weg. Hatte sie denn nicht mehr Gewalt über sich?      Sie stand auf, sie stützte die Hand auf den Tisch und sah finster vor sich nieder.</p><lb/>
        <p>Ich bin mein eigener Herr, sagte sie zürnend und wie drohend dem Bild entgegentretend, das      hartnäckig vor ihrem inneren Auge stand. Wer wird mich zwingen zu fühlen, was ich nicht fühlen      will? Hinweg mit dieser Thorheit! mein Weg liegt klar von mir, und wer wird sagen, daß ich ihn      nicht gehen soll? &#x2014; Sie läutete ihrem Mädchen und ließ sich entkleiden, und welcher Art auch      die Träume waren, die in dieser Nacht sie umschwebten, ihr Wille stand fest, es war der      unbeugsame Wille, den sie von ihrer Mutter geerbt.</p><lb/>
        <p>Doch so leichten Kaufes sollte sie der Gefahr nicht entgehen. War es eine Warnung, die ihr      der Himmel gab? Wohin sie ging, begegnete sie dem Fremden; es war, als führe eine unsichtbare      Hand ihn ihr immer in den Weg. Er suchte sich ihr nicht zu nähern, nicht einmal sein Name wurde      ihr genannt, und sie wich jeder Gelegenheit dazu mit Sorgfalt aus. Aber immer übten seine      Blicke auf sie dieselbe magnetische Kraft aus, der sie sich nicht zu entringen wußte. Allein      wir wissen es, Leonie war nicht diejenige, die sich durch solche Eingebungen leiten ließ, und      der Empfindung, die sie nicht ganz ersticken konnte, trat sie entgegen mit einer Art von      Haß.</p><lb/>
        <p>Da trat die Versuchung plötzlich von einer Seite an sie heran, wo sie am wenigsten darauf      vorbereitet war.</p><lb/>
        <p>Auf einem Balle, den sie kurze Zeit nach ihrer Verlobung, noch immer unter Fräulein Bertold's      tugendhaftem Schutz, besuchte, hatte sie sich, um von dem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0052] im Theater, die Musik brauste, die Melodieen schmolzen in einander, süß, weich und verlockend, und der Blick des Unbekannten umwebte sie mit einem entnervenden Netz. Mit Gewalt riß sie sich los und nahm die Feder wieder auf, aber kein Gedanke wollte kommen, und sie schleuderte sie zornig weg. Hatte sie denn nicht mehr Gewalt über sich? Sie stand auf, sie stützte die Hand auf den Tisch und sah finster vor sich nieder. Ich bin mein eigener Herr, sagte sie zürnend und wie drohend dem Bild entgegentretend, das hartnäckig vor ihrem inneren Auge stand. Wer wird mich zwingen zu fühlen, was ich nicht fühlen will? Hinweg mit dieser Thorheit! mein Weg liegt klar von mir, und wer wird sagen, daß ich ihn nicht gehen soll? — Sie läutete ihrem Mädchen und ließ sich entkleiden, und welcher Art auch die Träume waren, die in dieser Nacht sie umschwebten, ihr Wille stand fest, es war der unbeugsame Wille, den sie von ihrer Mutter geerbt. Doch so leichten Kaufes sollte sie der Gefahr nicht entgehen. War es eine Warnung, die ihr der Himmel gab? Wohin sie ging, begegnete sie dem Fremden; es war, als führe eine unsichtbare Hand ihn ihr immer in den Weg. Er suchte sich ihr nicht zu nähern, nicht einmal sein Name wurde ihr genannt, und sie wich jeder Gelegenheit dazu mit Sorgfalt aus. Aber immer übten seine Blicke auf sie dieselbe magnetische Kraft aus, der sie sich nicht zu entringen wußte. Allein wir wissen es, Leonie war nicht diejenige, die sich durch solche Eingebungen leiten ließ, und der Empfindung, die sie nicht ganz ersticken konnte, trat sie entgegen mit einer Art von Haß. Da trat die Versuchung plötzlich von einer Seite an sie heran, wo sie am wenigsten darauf vorbereitet war. Auf einem Balle, den sie kurze Zeit nach ihrer Verlobung, noch immer unter Fräulein Bertold's tugendhaftem Schutz, besuchte, hatte sie sich, um von dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/52
Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/52>, abgerufen am 23.11.2024.