Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Jetzt geh! -- jetzt ist es Zeit! sagte sie. Das Mädchen fuhr zitternd in die Höhe. Hörst du mich, Tine? rief die Kranke ungeduldig. Das arme Kind sank in die Knie: Ich kann nicht! hauchte sie in furchtbarer Angst -- Ich darf nicht! -- Mein Oheim jagt mich fort, wenn ich es thue! -- Dann nimm den Fluch einer Sterbenden ans dich! -- Weißt du denn nicht, daß du geschworen hast? -- und ich habe Niemand zu schicken, als dich -- und ich sterbe -- ich sterbe! -- Weh dir, wenn ich sterben muss in dieser Todesangst, die mich nicht sterben lässt! -- Sie war aufgestanden und machte eine Bewegung auf das Mädchen zu. Doch dieses war todtenbleich aufgesprungen. Ich gehe, sagte sie, mag mein Oheim mit mir thun, was er will. -- Und leise und eilig hatte sie das Zimmer verlassen und schlich durch eine Hinterthüre zum Hause hinaus. Der Abend war unterdessen angebrochen, der trübe Herbstabend, der sich ohne Sternenlicht in seinem Nebelmantel feucht über die erstarrende Erde legt. Leonie saß noch immer am Klavier in dem verdunkelten Zimmer; aber Fräulein Bertold hatte sie verlassen, und in dieser Stunde der Einsamkeit lag auf der jungen Stirn ein Ausdruck, der von dem ruhiger Heiterkeit, den sie vorhin trug, sehr verschieden war. Es war der Ausdruck tiefster Langeweile und Abgespanntheit. Die zierlichen Hände glitten in nachlässiger Trägheit über die Tasten und lockten Akkorde daraus hervor, die ohne Ordnung und Verbindung, wie sie schienen, die oft unterbrochene Begleitung für die unruhigen Gedanken des jungen Mädchens bildeten. -- O Gott! dachte sie, wann wird das enden? Wie bin ich müde, müde, müde! -- Otto liebt das Landleben -- ja freilich -- er ist immer in der Stadt! -- Wie glücklich sind die Knaben! Sie können fort. --Was gäbe ich darum, ein Knabe zu sein! -- Trab -- trab -- ein Tag wie der andere. Jetzt geh! — jetzt ist es Zeit! sagte sie. Das Mädchen fuhr zitternd in die Höhe. Hörst du mich, Tine? rief die Kranke ungeduldig. Das arme Kind sank in die Knie: Ich kann nicht! hauchte sie in furchtbarer Angst — Ich darf nicht! — Mein Oheim jagt mich fort, wenn ich es thue! — Dann nimm den Fluch einer Sterbenden ans dich! — Weißt du denn nicht, daß du geschworen hast? — und ich habe Niemand zu schicken, als dich — und ich sterbe — ich sterbe! — Weh dir, wenn ich sterben muss in dieser Todesangst, die mich nicht sterben lässt! — Sie war aufgestanden und machte eine Bewegung auf das Mädchen zu. Doch dieses war todtenbleich aufgesprungen. Ich gehe, sagte sie, mag mein Oheim mit mir thun, was er will. — Und leise und eilig hatte sie das Zimmer verlassen und schlich durch eine Hinterthüre zum Hause hinaus. Der Abend war unterdessen angebrochen, der trübe Herbstabend, der sich ohne Sternenlicht in seinem Nebelmantel feucht über die erstarrende Erde legt. Leonie saß noch immer am Klavier in dem verdunkelten Zimmer; aber Fräulein Bertold hatte sie verlassen, und in dieser Stunde der Einsamkeit lag auf der jungen Stirn ein Ausdruck, der von dem ruhiger Heiterkeit, den sie vorhin trug, sehr verschieden war. Es war der Ausdruck tiefster Langeweile und Abgespanntheit. Die zierlichen Hände glitten in nachlässiger Trägheit über die Tasten und lockten Akkorde daraus hervor, die ohne Ordnung und Verbindung, wie sie schienen, die oft unterbrochene Begleitung für die unruhigen Gedanken des jungen Mädchens bildeten. — O Gott! dachte sie, wann wird das enden? Wie bin ich müde, müde, müde! — Otto liebt das Landleben — ja freilich — er ist immer in der Stadt! — Wie glücklich sind die Knaben! Sie können fort. —Was gäbe ich darum, ein Knabe zu sein! — Trab — trab — ein Tag wie der andere. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0032"/> <p>Jetzt geh! — jetzt ist es Zeit! sagte sie.</p><lb/> <p>Das Mädchen fuhr zitternd in die Höhe.</p><lb/> <p>Hörst du mich, Tine? rief die Kranke ungeduldig.</p><lb/> <p>Das arme Kind sank in die Knie: Ich kann nicht! hauchte sie in furchtbarer Angst — Ich darf nicht! — Mein Oheim jagt mich fort, wenn ich es thue! —</p><lb/> <p>Dann nimm den Fluch einer Sterbenden ans dich! — Weißt du denn nicht, daß du geschworen hast? — und ich habe Niemand zu schicken, als dich — und ich sterbe — ich sterbe! — Weh dir, wenn ich sterben muss in dieser Todesangst, die mich nicht sterben lässt! —</p><lb/> <p>Sie war aufgestanden und machte eine Bewegung auf das Mädchen zu. 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Die zierlichen Hände glitten in nachlässiger Trägheit über die Tasten und lockten Akkorde daraus hervor, die ohne Ordnung und Verbindung, wie sie schienen, die oft unterbrochene Begleitung für die unruhigen Gedanken des jungen Mädchens bildeten. — O Gott! dachte sie, wann wird das enden? Wie bin ich müde, müde, müde! — Otto liebt das Landleben — ja freilich — er ist immer in der Stadt! — Wie glücklich sind die Knaben! Sie können fort. —Was gäbe ich darum, ein Knabe zu sein! — Trab — trab — ein Tag wie der andere.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0032]
Jetzt geh! — jetzt ist es Zeit! sagte sie.
Das Mädchen fuhr zitternd in die Höhe.
Hörst du mich, Tine? rief die Kranke ungeduldig.
Das arme Kind sank in die Knie: Ich kann nicht! hauchte sie in furchtbarer Angst — Ich darf nicht! — Mein Oheim jagt mich fort, wenn ich es thue! —
Dann nimm den Fluch einer Sterbenden ans dich! — Weißt du denn nicht, daß du geschworen hast? — und ich habe Niemand zu schicken, als dich — und ich sterbe — ich sterbe! — Weh dir, wenn ich sterben muss in dieser Todesangst, die mich nicht sterben lässt! —
Sie war aufgestanden und machte eine Bewegung auf das Mädchen zu. Doch dieses war todtenbleich aufgesprungen.
Ich gehe, sagte sie, mag mein Oheim mit mir thun, was er will. —
Und leise und eilig hatte sie das Zimmer verlassen und schlich durch eine Hinterthüre zum Hause hinaus.
Der Abend war unterdessen angebrochen, der trübe Herbstabend, der sich ohne Sternenlicht in seinem Nebelmantel feucht über die erstarrende Erde legt. Leonie saß noch immer am Klavier in dem verdunkelten Zimmer; aber Fräulein Bertold hatte sie verlassen, und in dieser Stunde der Einsamkeit lag auf der jungen Stirn ein Ausdruck, der von dem ruhiger Heiterkeit, den sie vorhin trug, sehr verschieden war. Es war der Ausdruck tiefster Langeweile und Abgespanntheit. Die zierlichen Hände glitten in nachlässiger Trägheit über die Tasten und lockten Akkorde daraus hervor, die ohne Ordnung und Verbindung, wie sie schienen, die oft unterbrochene Begleitung für die unruhigen Gedanken des jungen Mädchens bildeten. — O Gott! dachte sie, wann wird das enden? Wie bin ich müde, müde, müde! — Otto liebt das Landleben — ja freilich — er ist immer in der Stadt! — Wie glücklich sind die Knaben! Sie können fort. —Was gäbe ich darum, ein Knabe zu sein! — Trab — trab — ein Tag wie der andere.
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Zitationshilfe: | Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/32>, abgerufen am 17.07.2024. |