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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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wöhnliche Gouvernante, und die Personen, die sie dem Grafen empfohlen, hatten Grund zu der Empfehlung gehabt. Sie verstand ihr Fach und hatte nicht nur Gelegenheit gehabt, Charaktere zu studieren, sie hatte sie wirklich studiert, und was nicht immer damit verbunden ist, sie verstand es auch, aus diesen Studien Nutzen zu ziehen, und wenn sie dabei im Grunde mehr an sich, als an ihre Zöglinge dachte, wer wird es ihr verärgern? Sie wurde ja nicht für die Liebe, sondern für den Unterricht bezahlt. Sie hatte denn sehr bald herausgebracht, mit welcher Geistesrichtung sie es hier zu thun hatte. Sie sind ein adeliges Fräulein, sagte sie daher eines Tages zu Leonie, die sich eben einer besonderen Unliebenswürdigkeit befliß. Sie sind ein adeliges Fräulein und gehören einer alten berühmten Familie an; auch werden Sie reich sein, wie es sich zu Ihrem Stande schickt. Was ist aber das Alles, wenn Sie nicht auch durch Ihre Manieren sich von dem gewöhnlichen Menschentroß unterscheiden? Manieren und Kenntnisse, die den Geist entwickeln, und die man lernen muß, mit Klugheit zu benutzen, das ist die einzige wahre Auszeichnung, in der unsere Macht gesichert ist.

Es war das zweite Mal, das Leonie die Klugheit rufen hörte, als Mittel zum Ziele. Die Erklärung der Pfarrerin hatte sie nicht vergessen und seitdem im Stillen manche Bemerkung darüber gemacht. Wenn Klugheit nichts Anderes war, als immer das Rechte zu thun, so haben wir gesehen, das ihr die oft üblen Folgen nicht entgangen waren, und das schien ihr wenig beneidenswerth.

Was ist Klugheit? frug sie jetzt wiederum.

Klugheit, erläuterte Fräulein Bertold, ist die Kunst, jeden Menschen nach der ihm eigenen Weise zu behandeln und ihn auf diese Art nach unserem Willen zu lenken.

Diese von jener der Pfarrerin sehr verschiedene Erklärung leuchtete Leonie auch viel besser ein.

wöhnliche Gouvernante, und die Personen, die sie dem Grafen empfohlen, hatten Grund zu der Empfehlung gehabt. Sie verstand ihr Fach und hatte nicht nur Gelegenheit gehabt, Charaktere zu studieren, sie hatte sie wirklich studiert, und was nicht immer damit verbunden ist, sie verstand es auch, aus diesen Studien Nutzen zu ziehen, und wenn sie dabei im Grunde mehr an sich, als an ihre Zöglinge dachte, wer wird es ihr verärgern? Sie wurde ja nicht für die Liebe, sondern für den Unterricht bezahlt. Sie hatte denn sehr bald herausgebracht, mit welcher Geistesrichtung sie es hier zu thun hatte. Sie sind ein adeliges Fräulein, sagte sie daher eines Tages zu Leonie, die sich eben einer besonderen Unliebenswürdigkeit befliß. Sie sind ein adeliges Fräulein und gehören einer alten berühmten Familie an; auch werden Sie reich sein, wie es sich zu Ihrem Stande schickt. Was ist aber das Alles, wenn Sie nicht auch durch Ihre Manieren sich von dem gewöhnlichen Menschentroß unterscheiden? Manieren und Kenntnisse, die den Geist entwickeln, und die man lernen muß, mit Klugheit zu benutzen, das ist die einzige wahre Auszeichnung, in der unsere Macht gesichert ist.

Es war das zweite Mal, das Leonie die Klugheit rufen hörte, als Mittel zum Ziele. Die Erklärung der Pfarrerin hatte sie nicht vergessen und seitdem im Stillen manche Bemerkung darüber gemacht. Wenn Klugheit nichts Anderes war, als immer das Rechte zu thun, so haben wir gesehen, das ihr die oft üblen Folgen nicht entgangen waren, und das schien ihr wenig beneidenswerth.

Was ist Klugheit? frug sie jetzt wiederum.

Klugheit, erläuterte Fräulein Bertold, ist die Kunst, jeden Menschen nach der ihm eigenen Weise zu behandeln und ihn auf diese Art nach unserem Willen zu lenken.

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[0028] wöhnliche Gouvernante, und die Personen, die sie dem Grafen empfohlen, hatten Grund zu der Empfehlung gehabt. Sie verstand ihr Fach und hatte nicht nur Gelegenheit gehabt, Charaktere zu studieren, sie hatte sie wirklich studiert, und was nicht immer damit verbunden ist, sie verstand es auch, aus diesen Studien Nutzen zu ziehen, und wenn sie dabei im Grunde mehr an sich, als an ihre Zöglinge dachte, wer wird es ihr verärgern? Sie wurde ja nicht für die Liebe, sondern für den Unterricht bezahlt. Sie hatte denn sehr bald herausgebracht, mit welcher Geistesrichtung sie es hier zu thun hatte. Sie sind ein adeliges Fräulein, sagte sie daher eines Tages zu Leonie, die sich eben einer besonderen Unliebenswürdigkeit befliß. Sie sind ein adeliges Fräulein und gehören einer alten berühmten Familie an; auch werden Sie reich sein, wie es sich zu Ihrem Stande schickt. Was ist aber das Alles, wenn Sie nicht auch durch Ihre Manieren sich von dem gewöhnlichen Menschentroß unterscheiden? Manieren und Kenntnisse, die den Geist entwickeln, und die man lernen muß, mit Klugheit zu benutzen, das ist die einzige wahre Auszeichnung, in der unsere Macht gesichert ist. Es war das zweite Mal, das Leonie die Klugheit rufen hörte, als Mittel zum Ziele. Die Erklärung der Pfarrerin hatte sie nicht vergessen und seitdem im Stillen manche Bemerkung darüber gemacht. Wenn Klugheit nichts Anderes war, als immer das Rechte zu thun, so haben wir gesehen, das ihr die oft üblen Folgen nicht entgangen waren, und das schien ihr wenig beneidenswerth. Was ist Klugheit? frug sie jetzt wiederum. Klugheit, erläuterte Fräulein Bertold, ist die Kunst, jeden Menschen nach der ihm eigenen Weise zu behandeln und ihn auf diese Art nach unserem Willen zu lenken. Diese von jener der Pfarrerin sehr verschiedene Erklärung leuchtete Leonie auch viel besser ein.

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/28>, abgerufen am 23.11.2024.