Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Ich bin ganz zertreten, ganz wund! flüsterte sie, als er, über sie gebeugt, an ihrem Bette stand. Er ging hinaus, er konnte es nicht ertragen, das lange Leben, das er zu schützen gelobt, nun an der Wunde, die er ihm beigebracht, unaufhaltsam verbluten zu sehen. Dennoch wachte die alte dämonische Kraft noch einmal in ihr auf, als er eines Tages allein in ihrem Zimmer leise zu ihr trat, weil er sie schlafend glaubte. Sie setzte sich auf, strich die wirren Haare aus dem Gesicht und sah ihn an mit einem wilden Blick: Und ich war doch nicht unschuldig! sagte sie und sank zurück. Sie starb, wie sie gelebt; sie hatte nie eine Schuld in sich gefühlt, und weder Reue noch Angst trübten ihren letzten Augenblick. Sonderbar war es, daß nie eine Ahnung in ihr aufdämmerte, wie sie sich ihr Schicksal doch selbst gemacht. Ihr Sinn für das Schöne und Zierliche lebte noch in den letzten Stunden in ihr. Sie kokettierte sozusagen mit dem furchtbaren Zerstörer, dem sie entgegenging. Sie ließ sich ankleiden, und man mußte Blumen bringen an ihr Bett. Mit den zarten Händchen strich sie mehrmals über die frischen Kelche hin: Morgen, flüsterte sie, wo sind wir dann? Sie ließ das Fenster offen, und die Abendsonne übergoss mit blendendem Licht die schattenhafte, noch immer unaussprechlich liebliche Gestalt. Lebewohl! sagte sie und hob wie grüßend die schwache Hand. Und ohne Gewalt, sanft wie ein Sonnenstrahl, verlöschte sie auch. Selbst im Tode war der wunderbare Reiz nicht von ihr gewichen, der sie im Leben geschmückt. Wie ein hilfloses Kind lag sie da, Schutz bedürfend und Schutz erflehend. Sie war noch nicht zwanzig Jahre alt, als man sie zu Grabe trug. Ihr Mann war in Verzweiflung. Von der wahren Ursache ihres Todes erfuhr er nie etwas und wollte nie etwas erfahren. Er schrieb ihn stets der Härte Ich bin ganz zertreten, ganz wund! flüsterte sie, als er, über sie gebeugt, an ihrem Bette stand. Er ging hinaus, er konnte es nicht ertragen, das lange Leben, das er zu schützen gelobt, nun an der Wunde, die er ihm beigebracht, unaufhaltsam verbluten zu sehen. Dennoch wachte die alte dämonische Kraft noch einmal in ihr auf, als er eines Tages allein in ihrem Zimmer leise zu ihr trat, weil er sie schlafend glaubte. Sie setzte sich auf, strich die wirren Haare aus dem Gesicht und sah ihn an mit einem wilden Blick: Und ich war doch nicht unschuldig! sagte sie und sank zurück. Sie starb, wie sie gelebt; sie hatte nie eine Schuld in sich gefühlt, und weder Reue noch Angst trübten ihren letzten Augenblick. Sonderbar war es, daß nie eine Ahnung in ihr aufdämmerte, wie sie sich ihr Schicksal doch selbst gemacht. Ihr Sinn für das Schöne und Zierliche lebte noch in den letzten Stunden in ihr. Sie kokettierte sozusagen mit dem furchtbaren Zerstörer, dem sie entgegenging. Sie ließ sich ankleiden, und man mußte Blumen bringen an ihr Bett. Mit den zarten Händchen strich sie mehrmals über die frischen Kelche hin: Morgen, flüsterte sie, wo sind wir dann? Sie ließ das Fenster offen, und die Abendsonne übergoss mit blendendem Licht die schattenhafte, noch immer unaussprechlich liebliche Gestalt. Lebewohl! sagte sie und hob wie grüßend die schwache Hand. Und ohne Gewalt, sanft wie ein Sonnenstrahl, verlöschte sie auch. Selbst im Tode war der wunderbare Reiz nicht von ihr gewichen, der sie im Leben geschmückt. Wie ein hilfloses Kind lag sie da, Schutz bedürfend und Schutz erflehend. Sie war noch nicht zwanzig Jahre alt, als man sie zu Grabe trug. Ihr Mann war in Verzweiflung. 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Ich bin ganz zertreten, ganz wund! flüsterte sie, als er, über sie gebeugt, an ihrem Bette stand.
Er ging hinaus, er konnte es nicht ertragen, das lange Leben, das er zu schützen gelobt, nun an der Wunde, die er ihm beigebracht, unaufhaltsam verbluten zu sehen.
Dennoch wachte die alte dämonische Kraft noch einmal in ihr auf, als er eines Tages allein in ihrem Zimmer leise zu ihr trat, weil er sie schlafend glaubte. Sie setzte sich auf, strich die wirren Haare aus dem Gesicht und sah ihn an mit einem wilden Blick: Und ich war doch nicht unschuldig! sagte sie und sank zurück.
Sie starb, wie sie gelebt; sie hatte nie eine Schuld in sich gefühlt, und weder Reue noch Angst trübten ihren letzten Augenblick. Sonderbar war es, daß nie eine Ahnung in ihr aufdämmerte, wie sie sich ihr Schicksal doch selbst gemacht. Ihr Sinn für das Schöne und Zierliche lebte noch in den letzten Stunden in ihr. Sie kokettierte sozusagen mit dem furchtbaren Zerstörer, dem sie entgegenging. Sie ließ sich ankleiden, und man mußte Blumen bringen an ihr Bett. Mit den zarten Händchen strich sie mehrmals über die frischen Kelche hin: Morgen, flüsterte sie, wo sind wir dann?
Sie ließ das Fenster offen, und die Abendsonne übergoss mit blendendem Licht die schattenhafte, noch immer unaussprechlich liebliche Gestalt. Lebewohl! sagte sie und hob wie grüßend die schwache Hand. Und ohne Gewalt, sanft wie ein Sonnenstrahl, verlöschte sie auch.
Selbst im Tode war der wunderbare Reiz nicht von ihr gewichen, der sie im Leben geschmückt. Wie ein hilfloses Kind lag sie da, Schutz bedürfend und Schutz erflehend. Sie war noch nicht zwanzig Jahre alt, als man sie zu Grabe trug.
Ihr Mann war in Verzweiflung. Von der wahren Ursache ihres Todes erfuhr er nie etwas und wollte nie etwas erfahren. Er schrieb ihn stets der Härte
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Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
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