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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Wir gehen fort von hier, war sein erstes Wort, als er der Rede wieder mächtig war.

Ein Schatten ihres ehemaligen Lächelns glitt über ihre Züge, verschwand aber sogleich wieder.

Nun ist es zu spät, sagte sie.

Dennoch schien die versprochene Veränderung sie ein wenig zu beleben, und sie ordnete selbst Manches zu ihrer Abreise an. Sie frug nicht, wohin er sie bringen wurde, und er führte sie nach Rothwalde, wohin sie sich vor ihrer Trennung von ihm so sehr zu sehnen schien. An seinem Arme durchwanderte sie wieder die Alleen, die sie zuerst blühend in allem Glanze ihrer Jugend und ihres Glückes gesehen. Aber es war nicht mehr dieselbe Leonie! Das feine Gewebe ihrer Nerven, dieses Meisterwerk der Natur, war zerrissen wie durch einen rohen Griff, und alle Versuche, sie zu neuem Leben zu wecken, scheiterten an der Apathie, in welche sie sich wie in ein Leichentuch hüllte.

Putz und Kostbarkeiten und tausend Kleinigkeiten, die sie sonst so sehr geliebt, wurden um sie gehäuft. Sie nahm sie in die Hand, lächelte und legte sie theilnahmslos wieder weg. Was früher Mark und Saft ihres Lebensbaumes gewesen war, Stolz, Leidenschaft, Eitelkeit und -- nur in anderem Sinne freilich, als man es gewöhnlich nimmt -- die zarte und vollendete Weiblichkeit, die über ihre ganze Erscheinung ausgegossen war, Alles war entschwunden auf immerdar.

Die Krankheit, welche die Mutter nach Jahren dahingerafft, entwickelte sich bei der Tochter in reißender Schnelligkeit. Sie welkte sichtbar dahin und blieb doch immer rührend schon. Endlich konnte sie nicht mehr gehen. Der Tod, der ihr früher so viel Grauen eingeflößt, schien ihrer Phantasie nur mehr ein grausames Spiel zu sein. Für ihre zarten Arme waren die goldenen Armbänder alle nun zu groß. Mit einer katzenartigen Lust an fremdem Leid machte sie ihren

Wir gehen fort von hier, war sein erstes Wort, als er der Rede wieder mächtig war.

Ein Schatten ihres ehemaligen Lächelns glitt über ihre Züge, verschwand aber sogleich wieder.

Nun ist es zu spät, sagte sie.

Dennoch schien die versprochene Veränderung sie ein wenig zu beleben, und sie ordnete selbst Manches zu ihrer Abreise an. Sie frug nicht, wohin er sie bringen wurde, und er führte sie nach Rothwalde, wohin sie sich vor ihrer Trennung von ihm so sehr zu sehnen schien. An seinem Arme durchwanderte sie wieder die Alleen, die sie zuerst blühend in allem Glanze ihrer Jugend und ihres Glückes gesehen. Aber es war nicht mehr dieselbe Leonie! Das feine Gewebe ihrer Nerven, dieses Meisterwerk der Natur, war zerrissen wie durch einen rohen Griff, und alle Versuche, sie zu neuem Leben zu wecken, scheiterten an der Apathie, in welche sie sich wie in ein Leichentuch hüllte.

Putz und Kostbarkeiten und tausend Kleinigkeiten, die sie sonst so sehr geliebt, wurden um sie gehäuft. Sie nahm sie in die Hand, lächelte und legte sie theilnahmslos wieder weg. Was früher Mark und Saft ihres Lebensbaumes gewesen war, Stolz, Leidenschaft, Eitelkeit und — nur in anderem Sinne freilich, als man es gewöhnlich nimmt — die zarte und vollendete Weiblichkeit, die über ihre ganze Erscheinung ausgegossen war, Alles war entschwunden auf immerdar.

Die Krankheit, welche die Mutter nach Jahren dahingerafft, entwickelte sich bei der Tochter in reißender Schnelligkeit. Sie welkte sichtbar dahin und blieb doch immer rührend schon. Endlich konnte sie nicht mehr gehen. Der Tod, der ihr früher so viel Grauen eingeflößt, schien ihrer Phantasie nur mehr ein grausames Spiel zu sein. Für ihre zarten Arme waren die goldenen Armbänder alle nun zu groß. Mit einer katzenartigen Lust an fremdem Leid machte sie ihren

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[0210] Wir gehen fort von hier, war sein erstes Wort, als er der Rede wieder mächtig war. Ein Schatten ihres ehemaligen Lächelns glitt über ihre Züge, verschwand aber sogleich wieder. Nun ist es zu spät, sagte sie. Dennoch schien die versprochene Veränderung sie ein wenig zu beleben, und sie ordnete selbst Manches zu ihrer Abreise an. Sie frug nicht, wohin er sie bringen wurde, und er führte sie nach Rothwalde, wohin sie sich vor ihrer Trennung von ihm so sehr zu sehnen schien. An seinem Arme durchwanderte sie wieder die Alleen, die sie zuerst blühend in allem Glanze ihrer Jugend und ihres Glückes gesehen. Aber es war nicht mehr dieselbe Leonie! Das feine Gewebe ihrer Nerven, dieses Meisterwerk der Natur, war zerrissen wie durch einen rohen Griff, und alle Versuche, sie zu neuem Leben zu wecken, scheiterten an der Apathie, in welche sie sich wie in ein Leichentuch hüllte. Putz und Kostbarkeiten und tausend Kleinigkeiten, die sie sonst so sehr geliebt, wurden um sie gehäuft. Sie nahm sie in die Hand, lächelte und legte sie theilnahmslos wieder weg. Was früher Mark und Saft ihres Lebensbaumes gewesen war, Stolz, Leidenschaft, Eitelkeit und — nur in anderem Sinne freilich, als man es gewöhnlich nimmt — die zarte und vollendete Weiblichkeit, die über ihre ganze Erscheinung ausgegossen war, Alles war entschwunden auf immerdar. Die Krankheit, welche die Mutter nach Jahren dahingerafft, entwickelte sich bei der Tochter in reißender Schnelligkeit. Sie welkte sichtbar dahin und blieb doch immer rührend schon. Endlich konnte sie nicht mehr gehen. Der Tod, der ihr früher so viel Grauen eingeflößt, schien ihrer Phantasie nur mehr ein grausames Spiel zu sein. Für ihre zarten Arme waren die goldenen Armbänder alle nun zu groß. Mit einer katzenartigen Lust an fremdem Leid machte sie ihren

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/210>, abgerufen am 23.11.2024.