Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.auf; es ließ mir keine Ruhe, ich mußte sehen, wie es ihr ging. Das Unmöglichste schien mir möglich zu sein, sobald es meine Frau betraf. So schlich ich zu ihrem Zimmer. Wie thöricht ist der Mensch! Der entsetzliche Traum hielt meine Sinne noch immer besangen, und mein Herz hörte thatsächlich auf zu schlagen, als ich die Hand auf das Schloß der Thüre legte. Meine Angst war jedoch nicht gerechtfertigt, meine Frau lag ruhig und schlief. Ein Licht brannte neben ihrem Bette, ich beugte mich über sie -- so sanft, so still athmet das Kind in seinem Schlafe kaum -- ich wagte es nicht, ihre Lippen zu berühren, aus Furcht, sie zu wecken, -- denn ich liebte sie, Herr Marquis -- o mein Gott, wie sehr liebte ich sie! Seine Stimme stockte, Thränen liefen über seine Wangen, und einen Augenblick kämpfte er vergebens, seiner Bewegung wieder Herr zu werden. So Gott will, junger Mann, fuhr er endlich fort, werden Sie einst ein geliebtes Weib an Ihrem eigenen Herde sitzen sehen, von Ihren eigenen Kindern umspielt, und dann, erst dann werden Sie wissen, was die Liebe eines Mannes ist, eine Liebe, die nach so langen Jahren, nach Allem, was darüber hingegangen ist, noch Thränen in meine Augen zu locken vermag! -- Mein Blick mochte sie im Schlafe beängstigen, sie machte eine leichte Bewegung, und ich war schon im Begriffe mich zurückzuziehen, als ein Papier, das sich aus der halbverschobenen Umhüllung ihrer Brust kaum merklich hervorstahl, meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Vorsichtig zog ich es hervor. Es war ein Brief, Herr Marquis -- ein Brief Ihres Vaters -- an meine Frau -- an seine Geliebte -- vielleicht -- und das ist das Entsetzlichste! -- an die Mutter seines Kindes -- an die Mutter Leonie's. Die Gräfin fuhr auf, als habe ein elektrischer Schlag sie berührt, dann sank sie zurück, weißer als der auf; es ließ mir keine Ruhe, ich mußte sehen, wie es ihr ging. Das Unmöglichste schien mir möglich zu sein, sobald es meine Frau betraf. So schlich ich zu ihrem Zimmer. Wie thöricht ist der Mensch! Der entsetzliche Traum hielt meine Sinne noch immer besangen, und mein Herz hörte thatsächlich auf zu schlagen, als ich die Hand auf das Schloß der Thüre legte. Meine Angst war jedoch nicht gerechtfertigt, meine Frau lag ruhig und schlief. Ein Licht brannte neben ihrem Bette, ich beugte mich über sie — so sanft, so still athmet das Kind in seinem Schlafe kaum — ich wagte es nicht, ihre Lippen zu berühren, aus Furcht, sie zu wecken, — denn ich liebte sie, Herr Marquis — o mein Gott, wie sehr liebte ich sie! Seine Stimme stockte, Thränen liefen über seine Wangen, und einen Augenblick kämpfte er vergebens, seiner Bewegung wieder Herr zu werden. So Gott will, junger Mann, fuhr er endlich fort, werden Sie einst ein geliebtes Weib an Ihrem eigenen Herde sitzen sehen, von Ihren eigenen Kindern umspielt, und dann, erst dann werden Sie wissen, was die Liebe eines Mannes ist, eine Liebe, die nach so langen Jahren, nach Allem, was darüber hingegangen ist, noch Thränen in meine Augen zu locken vermag! — Mein Blick mochte sie im Schlafe beängstigen, sie machte eine leichte Bewegung, und ich war schon im Begriffe mich zurückzuziehen, als ein Papier, das sich aus der halbverschobenen Umhüllung ihrer Brust kaum merklich hervorstahl, meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Vorsichtig zog ich es hervor. Es war ein Brief, Herr Marquis — ein Brief Ihres Vaters — an meine Frau — an seine Geliebte — vielleicht — und das ist das Entsetzlichste! — an die Mutter seines Kindes — an die Mutter Leonie's. 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So schlich ich zu ihrem Zimmer. Wie thöricht ist der Mensch! Der entsetzliche Traum hielt meine Sinne noch immer besangen, und mein Herz hörte thatsächlich auf zu schlagen, als ich die Hand auf das Schloß der Thüre legte. Meine Angst war jedoch nicht gerechtfertigt, meine Frau lag ruhig und schlief. Ein Licht brannte neben ihrem Bette, ich beugte mich über sie — so sanft, so still athmet das Kind in seinem Schlafe kaum — ich wagte es nicht, ihre Lippen zu berühren, aus Furcht, sie zu wecken, — denn ich liebte sie, Herr Marquis — o mein Gott, wie sehr liebte ich sie!
Seine Stimme stockte, Thränen liefen über seine Wangen, und einen Augenblick kämpfte er vergebens, seiner Bewegung wieder Herr zu werden.
So Gott will, junger Mann, fuhr er endlich fort, werden Sie einst ein geliebtes Weib an Ihrem eigenen Herde sitzen sehen, von Ihren eigenen Kindern umspielt, und dann, erst dann werden Sie wissen, was die Liebe eines Mannes ist, eine Liebe, die nach so langen Jahren, nach Allem, was darüber hingegangen ist, noch Thränen in meine Augen zu locken vermag! —
Mein Blick mochte sie im Schlafe beängstigen, sie machte eine leichte Bewegung, und ich war schon im Begriffe mich zurückzuziehen, als ein Papier, das sich aus der halbverschobenen Umhüllung ihrer Brust kaum merklich hervorstahl, meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Vorsichtig zog ich es hervor. Es war ein Brief, Herr Marquis — ein Brief Ihres Vaters — an meine Frau — an seine Geliebte — vielleicht — und das ist das Entsetzlichste! — an die Mutter seines Kindes — an die Mutter Leonie's.
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Zitationshilfe: | Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/197>, abgerufen am 16.02.2025. |