Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.und schickte den Küster fort. Langsam gingen sie nun die Reihen der Gräber hinab, unter welchen mancher Denkstein eines alten Dieners oder eines ländlichen Freundes aus des Grafen eigener Knabenzeit sich befand. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, las die Inschriften und machte eine kleine lobende oder gerührte Bemerkung dazu. Leonie nickte nur, der Anblick von Gräbern hatte für sie etwas Unheimliches, und der sonderbare Spaziergang dauerte ihr sehr lang. Endlich, vor einem einfachen weißen Steine, nur mit zwei Initialbuchstaben bezeichnet, blieb er wieder stehen. Er wandte sich nach seiner Tochter um und legte die Hand auf ihren Arm. Das ist das Grab deiner Mutter, sagte er. Leonie fuhr zusammen und starrte erblassend auf den Stein. Sie schauderte, aber zu ihrem Herzen drang die Stimme nicht, die aus diesem Grabe zu ihr rief. Die Erinnerung an die Mutter, die trotz aller Verirrungen sie doch so sehr geliebt, weckte in der Tochter kein weicheres Gefühl. Sie dachte an die Folter, an den Tod, vielleicht auch an die Schuld, aber sie betete nicht, sie hatte nichts zu bitten, nichts zu verzeihen, -- ihre Seele war hart, wie der Stein, auf den sie blickte, und sie wandte stumm das erblaßte Gesicht hinweg. Der Graf machte keine Bemerkung, schweigend verließen Beide den so stillen, ernsten Ort. Doch aus dem Leben und Weben der freien Natur trieb es Leonie hinweg in das Treiben der Menschen, sie fuhr aus und kehrte erst am späten Abend zurück. Jetzt, in die weichen Kissen gelehnt, rief sie den Vorgang des Morgens wieder vor ihren Geist. O ich kann nicht mehr zurück, sagte sie sich, und wozu? wie oft habe ich nicht schon solchen Warnungen gelauscht, und dann war es nichts gewesen als das Werk meiner eigenen aufgeregten Phantasie. Es ist noch immer Zeit, dachte sie, und wenn ich vorsichtig bin, was kann mir wohl geschehen? und schickte den Küster fort. Langsam gingen sie nun die Reihen der Gräber hinab, unter welchen mancher Denkstein eines alten Dieners oder eines ländlichen Freundes aus des Grafen eigener Knabenzeit sich befand. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, las die Inschriften und machte eine kleine lobende oder gerührte Bemerkung dazu. Leonie nickte nur, der Anblick von Gräbern hatte für sie etwas Unheimliches, und der sonderbare Spaziergang dauerte ihr sehr lang. Endlich, vor einem einfachen weißen Steine, nur mit zwei Initialbuchstaben bezeichnet, blieb er wieder stehen. Er wandte sich nach seiner Tochter um und legte die Hand auf ihren Arm. Das ist das Grab deiner Mutter, sagte er. Leonie fuhr zusammen und starrte erblassend auf den Stein. Sie schauderte, aber zu ihrem Herzen drang die Stimme nicht, die aus diesem Grabe zu ihr rief. Die Erinnerung an die Mutter, die trotz aller Verirrungen sie doch so sehr geliebt, weckte in der Tochter kein weicheres Gefühl. Sie dachte an die Folter, an den Tod, vielleicht auch an die Schuld, aber sie betete nicht, sie hatte nichts zu bitten, nichts zu verzeihen, — ihre Seele war hart, wie der Stein, auf den sie blickte, und sie wandte stumm das erblaßte Gesicht hinweg. Der Graf machte keine Bemerkung, schweigend verließen Beide den so stillen, ernsten Ort. Doch aus dem Leben und Weben der freien Natur trieb es Leonie hinweg in das Treiben der Menschen, sie fuhr aus und kehrte erst am späten Abend zurück. Jetzt, in die weichen Kissen gelehnt, rief sie den Vorgang des Morgens wieder vor ihren Geist. O ich kann nicht mehr zurück, sagte sie sich, und wozu? wie oft habe ich nicht schon solchen Warnungen gelauscht, und dann war es nichts gewesen als das Werk meiner eigenen aufgeregten Phantasie. Es ist noch immer Zeit, dachte sie, und wenn ich vorsichtig bin, was kann mir wohl geschehen? <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0189"/> und schickte den Küster fort. Langsam gingen sie nun die Reihen der Gräber hinab, unter welchen mancher Denkstein eines alten Dieners oder eines ländlichen Freundes aus des Grafen eigener Knabenzeit sich befand. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, las die Inschriften und machte eine kleine lobende oder gerührte Bemerkung dazu. Leonie nickte nur, der Anblick von Gräbern hatte für sie etwas Unheimliches, und der sonderbare Spaziergang dauerte ihr sehr lang. Endlich, vor einem einfachen weißen Steine, nur mit zwei Initialbuchstaben bezeichnet, blieb er wieder stehen. 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Das ist das Grab deiner Mutter, sagte er.
Leonie fuhr zusammen und starrte erblassend auf den Stein. Sie schauderte, aber zu ihrem Herzen drang die Stimme nicht, die aus diesem Grabe zu ihr rief. Die Erinnerung an die Mutter, die trotz aller Verirrungen sie doch so sehr geliebt, weckte in der Tochter kein weicheres Gefühl. Sie dachte an die Folter, an den Tod, vielleicht auch an die Schuld, aber sie betete nicht, sie hatte nichts zu bitten, nichts zu verzeihen, — ihre Seele war hart, wie der Stein, auf den sie blickte, und sie wandte stumm das erblaßte Gesicht hinweg. Der Graf machte keine Bemerkung, schweigend verließen Beide den so stillen, ernsten Ort.
Doch aus dem Leben und Weben der freien Natur trieb es Leonie hinweg in das Treiben der Menschen, sie fuhr aus und kehrte erst am späten Abend zurück. Jetzt, in die weichen Kissen gelehnt, rief sie den Vorgang des Morgens wieder vor ihren Geist.
O ich kann nicht mehr zurück, sagte sie sich, und wozu? wie oft habe ich nicht schon solchen Warnungen gelauscht, und dann war es nichts gewesen als das Werk meiner eigenen aufgeregten Phantasie. Es ist noch immer Zeit, dachte sie, und wenn ich vorsichtig bin, was kann mir wohl geschehen?
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Zitationshilfe: | Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/189>, abgerufen am 16.02.2025. |