Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

hundertmal auf dem Sprunge gewesen, Leonie's Verbot zu brechen und dennoch zu ihr zu gehen. Nun ihm die Gelegenheit so leicht gegeben war, versagte ihm plötzlich aller Muth. Es war ihm so unbegreiflich, daß Der, welcher doch zunächst davon betroffen wurde, von Leonie's Erkalten so gar nichts zu bemerken schien.

Die Gräfin soll mir verzeihen, erwiderte er, ich schicke die Lieder ganz gewiß heute noch.

Haben Sie die Güte, erwiderte verbindlich der Graf; vielleicht können Sie selbst auf einen Augenblick hinaufgehen? Die Gräfin war neulich etwas unartig gegen Sie -- man muß ihr das verzeihen -- sie ist noch so jung! Uebrigens bereut sie es auch gleich und fürchtet nun, Sie konnten beleidigt sein.

O das hat nichts zu sagen, stammelte Louis in wachsender Verlegenheit.

Also, sans rancune! wie Ihre Landsleute sagen, schloß der Graf, und der Marques begleitete ihn hinaus.

Gott, ist es möglich? rief Louis, als er zurückkam. Wäre ich Leonie's Mann, von welcher Wichtigkeit würde jede Regung ihres Herzens für mich sein!

Sonderbar! aus dem Vertrauen des Grafen in seine Frau, zog er den kühnen Schluß, wie unwerth einer solchen Frau dieser Mann sei.

Er sammelte seine Notenhefte und stieg bald daraus mit ungeduldiger Freude die Treppe zu Leonie's Wohnung hinauf. Die Falschheit, die ihn zu ihr führte, schien ihm weit weniger verwerflich zu sein, als jene, die ihn von ihr entfernt hielt. Sie stand am Fenster und erwartete ihn. Ihre erste Bewegung war, ihm entgegen zu springen, doch mitten im Zimmer blieb sie durch eine plötzliche Eingebung stehen: sie hatte sich nicht umsonst so reizend gemacht! Der helle Sonnenschein spielte um sie und malte hinter ihr einen warmen, goldigen Grund, wie zu einem byzantinischen Gemälde. Da war kein Fältchen an ihrer Kleidung, keine Locke ihres herrlichen Haares, die nicht dazu

hundertmal auf dem Sprunge gewesen, Leonie's Verbot zu brechen und dennoch zu ihr zu gehen. Nun ihm die Gelegenheit so leicht gegeben war, versagte ihm plötzlich aller Muth. Es war ihm so unbegreiflich, daß Der, welcher doch zunächst davon betroffen wurde, von Leonie's Erkalten so gar nichts zu bemerken schien.

Die Gräfin soll mir verzeihen, erwiderte er, ich schicke die Lieder ganz gewiß heute noch.

Haben Sie die Güte, erwiderte verbindlich der Graf; vielleicht können Sie selbst auf einen Augenblick hinaufgehen? Die Gräfin war neulich etwas unartig gegen Sie — man muß ihr das verzeihen — sie ist noch so jung! Uebrigens bereut sie es auch gleich und fürchtet nun, Sie konnten beleidigt sein.

O das hat nichts zu sagen, stammelte Louis in wachsender Verlegenheit.

Also, sans rancune! wie Ihre Landsleute sagen, schloß der Graf, und der Marques begleitete ihn hinaus.

Gott, ist es möglich? rief Louis, als er zurückkam. Wäre ich Leonie's Mann, von welcher Wichtigkeit würde jede Regung ihres Herzens für mich sein!

Sonderbar! aus dem Vertrauen des Grafen in seine Frau, zog er den kühnen Schluß, wie unwerth einer solchen Frau dieser Mann sei.

Er sammelte seine Notenhefte und stieg bald daraus mit ungeduldiger Freude die Treppe zu Leonie's Wohnung hinauf. Die Falschheit, die ihn zu ihr führte, schien ihm weit weniger verwerflich zu sein, als jene, die ihn von ihr entfernt hielt. Sie stand am Fenster und erwartete ihn. Ihre erste Bewegung war, ihm entgegen zu springen, doch mitten im Zimmer blieb sie durch eine plötzliche Eingebung stehen: sie hatte sich nicht umsonst so reizend gemacht! Der helle Sonnenschein spielte um sie und malte hinter ihr einen warmen, goldigen Grund, wie zu einem byzantinischen Gemälde. Da war kein Fältchen an ihrer Kleidung, keine Locke ihres herrlichen Haares, die nicht dazu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <p><pb facs="#f0144"/>
hundertmal auf dem Sprunge gewesen, Leonie's Verbot      zu brechen und dennoch zu ihr zu gehen. Nun ihm die Gelegenheit so leicht gegeben war, versagte      ihm plötzlich aller Muth. Es war ihm so unbegreiflich, daß Der, welcher doch zunächst davon      betroffen wurde, von Leonie's Erkalten so gar nichts zu bemerken schien.</p><lb/>
        <p>Die Gräfin soll mir verzeihen, erwiderte er, ich schicke die Lieder ganz gewiß heute      noch.</p><lb/>
        <p>Haben Sie die Güte, erwiderte verbindlich der Graf; vielleicht können Sie selbst auf einen      Augenblick hinaufgehen? Die Gräfin war neulich etwas unartig gegen Sie &#x2014; man muß ihr das      verzeihen &#x2014; sie ist noch so jung! Uebrigens bereut sie es auch gleich und fürchtet nun, Sie      konnten beleidigt sein.</p><lb/>
        <p>O das hat nichts zu sagen, stammelte Louis in wachsender Verlegenheit.</p><lb/>
        <p>Also, sans rancune! wie Ihre Landsleute sagen, schloß der Graf, und der Marques begleitete      ihn hinaus.</p><lb/>
        <p>Gott, ist es möglich? rief Louis, als er zurückkam. Wäre ich Leonie's Mann, von welcher      Wichtigkeit würde jede Regung ihres Herzens für mich sein!</p><lb/>
        <p>Sonderbar! aus dem Vertrauen des Grafen in seine Frau, zog er den kühnen Schluß, wie unwerth      einer solchen Frau dieser Mann sei.</p><lb/>
        <p>Er sammelte seine Notenhefte und stieg bald daraus mit ungeduldiger Freude die Treppe zu      Leonie's Wohnung hinauf. Die Falschheit, die ihn zu ihr führte, schien ihm weit weniger      verwerflich zu sein, als jene, die ihn von ihr entfernt hielt. Sie stand am Fenster und      erwartete ihn. Ihre erste Bewegung war, ihm entgegen zu springen, doch mitten im Zimmer blieb      sie durch eine plötzliche Eingebung stehen: sie hatte sich nicht umsonst so reizend gemacht!      Der helle Sonnenschein spielte um sie und malte hinter ihr einen warmen, goldigen Grund, wie zu      einem byzantinischen Gemälde. Da war kein Fältchen an ihrer Kleidung, keine Locke ihres      herrlichen Haares, die nicht dazu<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0144] hundertmal auf dem Sprunge gewesen, Leonie's Verbot zu brechen und dennoch zu ihr zu gehen. Nun ihm die Gelegenheit so leicht gegeben war, versagte ihm plötzlich aller Muth. Es war ihm so unbegreiflich, daß Der, welcher doch zunächst davon betroffen wurde, von Leonie's Erkalten so gar nichts zu bemerken schien. Die Gräfin soll mir verzeihen, erwiderte er, ich schicke die Lieder ganz gewiß heute noch. Haben Sie die Güte, erwiderte verbindlich der Graf; vielleicht können Sie selbst auf einen Augenblick hinaufgehen? Die Gräfin war neulich etwas unartig gegen Sie — man muß ihr das verzeihen — sie ist noch so jung! Uebrigens bereut sie es auch gleich und fürchtet nun, Sie konnten beleidigt sein. O das hat nichts zu sagen, stammelte Louis in wachsender Verlegenheit. Also, sans rancune! wie Ihre Landsleute sagen, schloß der Graf, und der Marques begleitete ihn hinaus. Gott, ist es möglich? rief Louis, als er zurückkam. Wäre ich Leonie's Mann, von welcher Wichtigkeit würde jede Regung ihres Herzens für mich sein! Sonderbar! aus dem Vertrauen des Grafen in seine Frau, zog er den kühnen Schluß, wie unwerth einer solchen Frau dieser Mann sei. Er sammelte seine Notenhefte und stieg bald daraus mit ungeduldiger Freude die Treppe zu Leonie's Wohnung hinauf. Die Falschheit, die ihn zu ihr führte, schien ihm weit weniger verwerflich zu sein, als jene, die ihn von ihr entfernt hielt. Sie stand am Fenster und erwartete ihn. Ihre erste Bewegung war, ihm entgegen zu springen, doch mitten im Zimmer blieb sie durch eine plötzliche Eingebung stehen: sie hatte sich nicht umsonst so reizend gemacht! Der helle Sonnenschein spielte um sie und malte hinter ihr einen warmen, goldigen Grund, wie zu einem byzantinischen Gemälde. Da war kein Fältchen an ihrer Kleidung, keine Locke ihres herrlichen Haares, die nicht dazu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/144
Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/144>, abgerufen am 23.11.2024.