Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.pflücken können. Das Aufbrausen nutzt gar nichts, schadet aber oft sehr viel. -- Und nun muß ich Sie verabschieden, Herr Marquis, mein Mann ist nur nach Hause gekommen, um mit mir wieder auszugehen. Sie reichte ihm die Hand, die er stumm an seine Lippen führte, und er fühlte deren vielsagenden Druck; aber weder dieser Druck noch der Blick, der ihn begleitete, stellte in ihm die gestörte Harmonie wieder her. Sonderbar! geliebt von dem Weibe, das er liebte mit einer Glut, in der jede andere Bedenklichkeit, wie Wachs in der Sonne, zerschmolz; ihre Tränen und Küsse noch warm auf seinen Lippen: dem höchsten Glück so nahe, das vielleicht schon der nächste Tag es ihm bringen konnte, -- war die erste Empfindung, die sich in dem durch die Gewißheit der Gegenliebe etwas beruhigten Gemüthe regte, eine Erbitterung gegen das einzige Mittel, wodurch dieses Glück ihm ermöglicht war. Der Ehebruch mit seinem gewöhnlichen Gefolge von Selbsterniedrigung und Heuchelei trat ihm schon jetzt in seiner hässlichsten Gestalt entgegen. Und ans dem Allen rang sich zum ersten Male wieder nach langer Zeit der Gedanke an Marie in seiner Seele empor. Wie war sie still, wie war sie ruhig, wie war sie heilig in ihrer unantastbaren, edlen Weiblichkeit! Doch kein Gedanke, Leonie zu entsagen, mischte sich in die kurze Erinnerung; nur ein tiefes Mitleiden kam über ihn. Ja, Marie ist wahr -- sagte er sich und seufzte -- sie kann es sein, setzte er hinzu. Nie hätte Marie für mich gewagt, was Leonie wagt; es ist nicht ihre Schuld, wenn ihre Liebe für mich sie nun zu dem zwingt, was ihrer unwürdig ist. Nein, Marie kann nicht lieben -- hätte sie Leonie's Herz für mich gehabt, es stünde jetzt wohl anders zwischen uns! Er ging mit sich zu Rathe. Er fühlte den Druck pflücken können. Das Aufbrausen nutzt gar nichts, schadet aber oft sehr viel. — Und nun muß ich Sie verabschieden, Herr Marquis, mein Mann ist nur nach Hause gekommen, um mit mir wieder auszugehen. Sie reichte ihm die Hand, die er stumm an seine Lippen führte, und er fühlte deren vielsagenden Druck; aber weder dieser Druck noch der Blick, der ihn begleitete, stellte in ihm die gestörte Harmonie wieder her. Sonderbar! geliebt von dem Weibe, das er liebte mit einer Glut, in der jede andere Bedenklichkeit, wie Wachs in der Sonne, zerschmolz; ihre Tränen und Küsse noch warm auf seinen Lippen: dem höchsten Glück so nahe, das vielleicht schon der nächste Tag es ihm bringen konnte, — war die erste Empfindung, die sich in dem durch die Gewißheit der Gegenliebe etwas beruhigten Gemüthe regte, eine Erbitterung gegen das einzige Mittel, wodurch dieses Glück ihm ermöglicht war. Der Ehebruch mit seinem gewöhnlichen Gefolge von Selbsterniedrigung und Heuchelei trat ihm schon jetzt in seiner hässlichsten Gestalt entgegen. Und ans dem Allen rang sich zum ersten Male wieder nach langer Zeit der Gedanke an Marie in seiner Seele empor. Wie war sie still, wie war sie ruhig, wie war sie heilig in ihrer unantastbaren, edlen Weiblichkeit! Doch kein Gedanke, Leonie zu entsagen, mischte sich in die kurze Erinnerung; nur ein tiefes Mitleiden kam über ihn. Ja, Marie ist wahr — sagte er sich und seufzte — sie kann es sein, setzte er hinzu. Nie hätte Marie für mich gewagt, was Leonie wagt; es ist nicht ihre Schuld, wenn ihre Liebe für mich sie nun zu dem zwingt, was ihrer unwürdig ist. Nein, Marie kann nicht lieben — hätte sie Leonie's Herz für mich gehabt, es stünde jetzt wohl anders zwischen uns! Er ging mit sich zu Rathe. Er fühlte den Druck <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0134"/> pflücken können. 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pflücken können. Das Aufbrausen nutzt gar nichts, schadet aber oft sehr viel. — Und nun muß ich Sie verabschieden, Herr Marquis, mein Mann ist nur nach Hause gekommen, um mit mir wieder auszugehen.
Sie reichte ihm die Hand, die er stumm an seine Lippen führte, und er fühlte deren vielsagenden Druck; aber weder dieser Druck noch der Blick, der ihn begleitete, stellte in ihm die gestörte Harmonie wieder her.
Sonderbar! geliebt von dem Weibe, das er liebte mit einer Glut, in der jede andere Bedenklichkeit, wie Wachs in der Sonne, zerschmolz; ihre Tränen und Küsse noch warm auf seinen Lippen: dem höchsten Glück so nahe, das vielleicht schon der nächste Tag es ihm bringen konnte, — war die erste Empfindung, die sich in dem durch die Gewißheit der Gegenliebe etwas beruhigten Gemüthe regte, eine Erbitterung gegen das einzige Mittel, wodurch dieses Glück ihm ermöglicht war.
Der Ehebruch mit seinem gewöhnlichen Gefolge von Selbsterniedrigung und Heuchelei trat ihm schon jetzt in seiner hässlichsten Gestalt entgegen.
Und ans dem Allen rang sich zum ersten Male wieder nach langer Zeit der Gedanke an Marie in seiner Seele empor. Wie war sie still, wie war sie ruhig, wie war sie heilig in ihrer unantastbaren, edlen Weiblichkeit!
Doch kein Gedanke, Leonie zu entsagen, mischte sich in die kurze Erinnerung; nur ein tiefes Mitleiden kam über ihn.
Ja, Marie ist wahr — sagte er sich und seufzte — sie kann es sein, setzte er hinzu. Nie hätte Marie für mich gewagt, was Leonie wagt; es ist nicht ihre Schuld, wenn ihre Liebe für mich sie nun zu dem zwingt, was ihrer unwürdig ist. Nein, Marie kann nicht lieben — hätte sie Leonie's Herz für mich gehabt, es stünde jetzt wohl anders zwischen uns!
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Zitationshilfe: | Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/134>, abgerufen am 19.07.2024. |