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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Da begegnete er ihr, und ihr gleichgültiges Vorübergehen gab allen seinen Hoffnungen den Todesstoß. Die Liebe, oder vielmehr die Leidenschaft ist ein sonderbares Wesen, ein tolles Pferd, das seinen Reiter bald hier, bald dorthin reißt und die goldene Mittelstraße stets überspringt. Marie und Alles war vergessen in diesem neuen, unerwarteten Schmerz, und als er nach Hause kam und ihre Einladung auf seinem Tische fand, dankte er Gott, wie für das größte, sehnlichst erwartetes Glück. Er las das Billet und las es wieder, legte es weg und nahm es abermals und versenkte sich endlich ganz in das Studium dieser kurzen, niedlichen Zeilen, deren zierlich gezogene Buchstaben in ihrer flüchtigen Leichtigkeit wie tanzende Amoretten sich unter seinen Augen zu bewegen schienen. Auf dem Siegel stand ein Stiefmütterchen, das dunkle und helle Blümchen, von den Franzosen so sinnig genannt. Hatte sie es nur aus Zufall gewählt? Er druckte das Papier an die Lippen, ein feiner Dunst drang daraus hervor, und wie mit einem Zauberschlag stand die ganze reizende Gestalt vor seinem Geist; es war fast, als wehe ihr warmer Athem über seine Stirne; er fühlte ihren Blick, er sah das Lächeln, das, räthselhaft und liebkosend wie ein Kus, seine ganze Seele gefangen nahm. An Marie dachte er heute und auch den andern Tag nicht mehr; der Abend, der ihm bevorstand, schloß alle seine Gedanken ein.

Der Graf hatte einen Trupp entfernter Bekannten zu dem heutigen Feste eingeladen, das auch eigentlich wie eine Art Abzugskanal nur für sie gegeben war. Die lange Reihe der Gesellschaftszimmer stand geöffnet, ein Meer von Licht wogte darin, prallte an den hohen Spiegeln ab und umspielte in blendendem Widerschein die frischen Kelche der Blumen, deren farbige Fülle bis in jeden Winkel verbreitet war. Leonie, von zwei goldbesetzten Lakaien gefolgt, wanderte von Zimmer zu Zimmer besichtigend umher, weiß, in schweren Gewän-

Da begegnete er ihr, und ihr gleichgültiges Vorübergehen gab allen seinen Hoffnungen den Todesstoß. Die Liebe, oder vielmehr die Leidenschaft ist ein sonderbares Wesen, ein tolles Pferd, das seinen Reiter bald hier, bald dorthin reißt und die goldene Mittelstraße stets überspringt. Marie und Alles war vergessen in diesem neuen, unerwarteten Schmerz, und als er nach Hause kam und ihre Einladung auf seinem Tische fand, dankte er Gott, wie für das größte, sehnlichst erwartetes Glück. Er las das Billet und las es wieder, legte es weg und nahm es abermals und versenkte sich endlich ganz in das Studium dieser kurzen, niedlichen Zeilen, deren zierlich gezogene Buchstaben in ihrer flüchtigen Leichtigkeit wie tanzende Amoretten sich unter seinen Augen zu bewegen schienen. Auf dem Siegel stand ein Stiefmütterchen, das dunkle und helle Blümchen, von den Franzosen so sinnig genannt. Hatte sie es nur aus Zufall gewählt? Er druckte das Papier an die Lippen, ein feiner Dunst drang daraus hervor, und wie mit einem Zauberschlag stand die ganze reizende Gestalt vor seinem Geist; es war fast, als wehe ihr warmer Athem über seine Stirne; er fühlte ihren Blick, er sah das Lächeln, das, räthselhaft und liebkosend wie ein Kus, seine ganze Seele gefangen nahm. An Marie dachte er heute und auch den andern Tag nicht mehr; der Abend, der ihm bevorstand, schloß alle seine Gedanken ein.

Der Graf hatte einen Trupp entfernter Bekannten zu dem heutigen Feste eingeladen, das auch eigentlich wie eine Art Abzugskanal nur für sie gegeben war. Die lange Reihe der Gesellschaftszimmer stand geöffnet, ein Meer von Licht wogte darin, prallte an den hohen Spiegeln ab und umspielte in blendendem Widerschein die frischen Kelche der Blumen, deren farbige Fülle bis in jeden Winkel verbreitet war. Leonie, von zwei goldbesetzten Lakaien gefolgt, wanderte von Zimmer zu Zimmer besichtigend umher, weiß, in schweren Gewän-

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[0116] Da begegnete er ihr, und ihr gleichgültiges Vorübergehen gab allen seinen Hoffnungen den Todesstoß. Die Liebe, oder vielmehr die Leidenschaft ist ein sonderbares Wesen, ein tolles Pferd, das seinen Reiter bald hier, bald dorthin reißt und die goldene Mittelstraße stets überspringt. Marie und Alles war vergessen in diesem neuen, unerwarteten Schmerz, und als er nach Hause kam und ihre Einladung auf seinem Tische fand, dankte er Gott, wie für das größte, sehnlichst erwartetes Glück. Er las das Billet und las es wieder, legte es weg und nahm es abermals und versenkte sich endlich ganz in das Studium dieser kurzen, niedlichen Zeilen, deren zierlich gezogene Buchstaben in ihrer flüchtigen Leichtigkeit wie tanzende Amoretten sich unter seinen Augen zu bewegen schienen. Auf dem Siegel stand ein Stiefmütterchen, das dunkle und helle Blümchen, von den Franzosen so sinnig genannt. Hatte sie es nur aus Zufall gewählt? Er druckte das Papier an die Lippen, ein feiner Dunst drang daraus hervor, und wie mit einem Zauberschlag stand die ganze reizende Gestalt vor seinem Geist; es war fast, als wehe ihr warmer Athem über seine Stirne; er fühlte ihren Blick, er sah das Lächeln, das, räthselhaft und liebkosend wie ein Kus, seine ganze Seele gefangen nahm. An Marie dachte er heute und auch den andern Tag nicht mehr; der Abend, der ihm bevorstand, schloß alle seine Gedanken ein. Der Graf hatte einen Trupp entfernter Bekannten zu dem heutigen Feste eingeladen, das auch eigentlich wie eine Art Abzugskanal nur für sie gegeben war. Die lange Reihe der Gesellschaftszimmer stand geöffnet, ein Meer von Licht wogte darin, prallte an den hohen Spiegeln ab und umspielte in blendendem Widerschein die frischen Kelche der Blumen, deren farbige Fülle bis in jeden Winkel verbreitet war. Leonie, von zwei goldbesetzten Lakaien gefolgt, wanderte von Zimmer zu Zimmer besichtigend umher, weiß, in schweren Gewän-

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/116>, abgerufen am 26.11.2024.