Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Was ist eine attische tragödie? allein auch dieser unterschied ist ganz äusserlich: die gliederung in stropheund antistrophe fällt weg, und daraus folgt eine viel bewegtere, für uns oft nicht mehr ganz verständliche metrik, und ohne zweifel eine ganz andere art des tanzes, von dem wir wie überhaupt so auch hier weder etwas wissen noch wissen können. und nicht einmal das ist dem dithy- rambos ausschliesslich eigen, sondern fand sich auch in andern liedern als denen, welche für den Dionysosdienst verfasst waren; die grammatiker haben sie, weil sie keinen bezeichnenden namen hatten, als tanzlieder (uporkhemata) bezeichnet und in besondere bücher geordnet. 38) es ist ein schlechter name; denn tanzlieder sind sie ja alle. und vollends der dichter äussert sich in den nichtstrophischen gedichten just so subjectiv wie in allen andern. Pindar erzählt den Athenern in einem dithyrambos, das wäre das zweite mal, das er für sie dichte (fgm. 75, 8), und seinen Thebanern führt er gar ohne jeden äusseren anlass ein tanzlied vor, um nach einem fürchterlichen vorzeichen (107) oder in einer politischen krisis seine meinung zu äussern (109 110). im gleichen falle dichtete Solon eine elegie, Archilochos einen iambos: Isokrates und Demosthenes schrieben eine rede. bürgerchor. Eine änderung hatte freilich die demokratie für den chor gebracht: 38) Von dem was die modernen hyporchema nennen und z. b. in den tragikern
so bezeichnen, ist nichts weder überliefert noch an sich berechtigt. die moderne metrische kabbala ist ganz unerträglich, aber auch das altertum hat unleidlich viel mit worten gekramt, die freilich sehr bequem sind das mangelnde verständnis zu verhüllen. Was ist eine attische tragödie? allein auch dieser unterschied ist ganz äuſserlich: die gliederung in stropheund antistrophe fällt weg, und daraus folgt eine viel bewegtere, für uns oft nicht mehr ganz verständliche metrik, und ohne zweifel eine ganz andere art des tanzes, von dem wir wie überhaupt so auch hier weder etwas wissen noch wissen können. und nicht einmal das ist dem dithy- rambos ausschlieſslich eigen, sondern fand sich auch in andern liedern als denen, welche für den Dionysosdienst verfaſst waren; die grammatiker haben sie, weil sie keinen bezeichnenden namen hatten, als tanzlieder (ὑπορχήματα) bezeichnet und in besondere bücher geordnet. 38) es ist ein schlechter name; denn tanzlieder sind sie ja alle. und vollends der dichter äuſsert sich in den nichtstrophischen gedichten just so subjectiv wie in allen andern. Pindar erzählt den Athenern in einem dithyrambos, das wäre das zweite mal, das er für sie dichte (fgm. 75, 8), und seinen Thebanern führt er gar ohne jeden äuſseren anlaſs ein tanzlied vor, um nach einem fürchterlichen vorzeichen (107) oder in einer politischen krisis seine meinung zu äuſsern (109 110). im gleichen falle dichtete Solon eine elegie, Archilochos einen iambos: Isokrates und Demosthenes schrieben eine rede. bürgerchor. Eine änderung hatte freilich die demokratie für den chor gebracht: 38) Von dem was die modernen hyporchema nennen und z. b. in den tragikern
so bezeichnen, ist nichts weder überliefert noch an sich berechtigt. die moderne metrische kabbala ist ganz unerträglich, aber auch das altertum hat unleidlich viel mit worten gekramt, die freilich sehr bequem sind das mangelnde verständnis zu verhüllen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0096" n="76"/><fw place="top" type="header">Was ist eine attische tragödie?</fw><lb/> allein auch dieser unterschied ist ganz äuſserlich: die gliederung in strophe<lb/> und antistrophe fällt weg, und daraus folgt eine viel bewegtere, für uns<lb/> oft nicht mehr ganz verständliche metrik, und ohne zweifel eine ganz<lb/> andere art des tanzes, von dem wir wie überhaupt so auch hier weder<lb/> etwas wissen noch wissen können. und nicht einmal das ist dem dithy-<lb/> rambos ausschlieſslich eigen, sondern fand sich auch in andern liedern<lb/> als denen, welche für den Dionysosdienst verfaſst waren; die grammatiker<lb/> haben sie, weil sie keinen bezeichnenden namen hatten, als tanzlieder<lb/> (ὑπορχήματα) bezeichnet und in besondere bücher geordnet. <note place="foot" n="38)">Von dem was die modernen hyporchema nennen und z. b. in den tragikern<lb/> so bezeichnen, ist nichts weder überliefert noch an sich berechtigt. die moderne<lb/> metrische kabbala ist ganz unerträglich, aber auch das altertum hat unleidlich viel<lb/> mit worten gekramt, die freilich sehr bequem sind das mangelnde verständnis zu<lb/> verhüllen.</note> es ist<lb/> ein schlechter name; denn tanzlieder sind sie ja alle. und vollends der<lb/> dichter äuſsert sich in den nichtstrophischen gedichten just so subjectiv<lb/> wie in allen andern. Pindar erzählt den Athenern in einem dithyrambos,<lb/> das wäre das zweite mal, das er für sie dichte (fgm. 75, 8), und seinen<lb/> Thebanern führt er gar ohne jeden äuſseren anlaſs ein tanzlied vor, um<lb/> nach einem fürchterlichen vorzeichen (107) oder in einer politischen<lb/> krisis seine meinung zu äuſsern (109 110). im gleichen falle dichtete<lb/> Solon eine elegie, Archilochos einen iambos: Isokrates und Demosthenes<lb/> schrieben eine rede.</p><lb/> <note place="left">Der attische<lb/> bürgerchor.</note> <p>Eine änderung hatte freilich die demokratie für den chor gebracht:<lb/> Pindaros wird in Theben geschulte berufsmäſsige sänger verwandt haben;<lb/> in Athen sang ein bürgerchor seinen dithyrambos. diesen wichtigen<lb/> umschwung hatten die neuen ordnungen sofort herbeigeführt, als das volk<lb/> sich mit hilfe der Lakedaemonier und des delphischen gottes erst von den<lb/> tyrannen und dann mit der eignen kraft um den preis des eintritts in<lb/> den peloponnesischen bund von den Lakedaemoniern frei gemacht hatte,<lb/> seine wehrhaftigkeit aber durch die überwältigung seiner nördlichen<lb/> nachbarn bewiesen hatte. wie die gesammtleitung seiner angelegenheiten,<lb/> nahm es auch den gottesdienst und die öffentlichen spiele in die eigne<lb/> hand. es wollte durchaus nicht auf die pflege der höhern cultur ver-<lb/> zichten, welche es den ionischen verbindungen seiner fürsten verdankte,<lb/> aber es wollte auch darin die eigene kraft beweisen; die kunst sollte<lb/> nicht mehr das vergnügen einer bevorzugten classe sein, sondern das des<lb/> volkes, das selbst turnen und tanzen wollte. während also vorher die<lb/> athleten und sänger in gilden sich zusammengetan hatten, und eine inter-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [76/0096]
Was ist eine attische tragödie?
allein auch dieser unterschied ist ganz äuſserlich: die gliederung in strophe
und antistrophe fällt weg, und daraus folgt eine viel bewegtere, für uns
oft nicht mehr ganz verständliche metrik, und ohne zweifel eine ganz
andere art des tanzes, von dem wir wie überhaupt so auch hier weder
etwas wissen noch wissen können. und nicht einmal das ist dem dithy-
rambos ausschlieſslich eigen, sondern fand sich auch in andern liedern
als denen, welche für den Dionysosdienst verfaſst waren; die grammatiker
haben sie, weil sie keinen bezeichnenden namen hatten, als tanzlieder
(ὑπορχήματα) bezeichnet und in besondere bücher geordnet. 38) es ist
ein schlechter name; denn tanzlieder sind sie ja alle. und vollends der
dichter äuſsert sich in den nichtstrophischen gedichten just so subjectiv
wie in allen andern. Pindar erzählt den Athenern in einem dithyrambos,
das wäre das zweite mal, das er für sie dichte (fgm. 75, 8), und seinen
Thebanern führt er gar ohne jeden äuſseren anlaſs ein tanzlied vor, um
nach einem fürchterlichen vorzeichen (107) oder in einer politischen
krisis seine meinung zu äuſsern (109 110). im gleichen falle dichtete
Solon eine elegie, Archilochos einen iambos: Isokrates und Demosthenes
schrieben eine rede.
Eine änderung hatte freilich die demokratie für den chor gebracht:
Pindaros wird in Theben geschulte berufsmäſsige sänger verwandt haben;
in Athen sang ein bürgerchor seinen dithyrambos. diesen wichtigen
umschwung hatten die neuen ordnungen sofort herbeigeführt, als das volk
sich mit hilfe der Lakedaemonier und des delphischen gottes erst von den
tyrannen und dann mit der eignen kraft um den preis des eintritts in
den peloponnesischen bund von den Lakedaemoniern frei gemacht hatte,
seine wehrhaftigkeit aber durch die überwältigung seiner nördlichen
nachbarn bewiesen hatte. wie die gesammtleitung seiner angelegenheiten,
nahm es auch den gottesdienst und die öffentlichen spiele in die eigne
hand. es wollte durchaus nicht auf die pflege der höhern cultur ver-
zichten, welche es den ionischen verbindungen seiner fürsten verdankte,
aber es wollte auch darin die eigene kraft beweisen; die kunst sollte
nicht mehr das vergnügen einer bevorzugten classe sein, sondern das des
volkes, das selbst turnen und tanzen wollte. während also vorher die
athleten und sänger in gilden sich zusammengetan hatten, und eine inter-
38) Von dem was die modernen hyporchema nennen und z. b. in den tragikern
so bezeichnen, ist nichts weder überliefert noch an sich berechtigt. die moderne
metrische kabbala ist ganz unerträglich, aber auch das altertum hat unleidlich viel
mit worten gekramt, die freilich sehr bequem sind das mangelnde verständnis zu
verhüllen.
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