Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Was ist eine attische tragödie? willkürlich einmal gegebenen gesetze werden jetzt streng befolgt. sie istinternational wie die des epos, weil sie nirgend national ist. wie im epos ist auch der stil ein conventioneller, fest gefügter. all das ist nur erklärlich durch die arbeit von generationen und die kunstmässige, wenn man will handwerksmässige, schulung der dichter. diese stehen also nicht wesentlich anders da als die epiker. der rhapsode war freilich zugleich dichter und ausübender künstler; auch Alkman war es noch bis zu einem gewissen grade gewesen. das war jetzt anders. aber die handwerks- mässige ausbildung war nun für die sänger nicht minder nötig, als für die dichter. denn diese ziehen nicht nur durch alle gauen und setzen voraus, ihr instrument überall vorzufinden, sie senden auch ein werk in ferne lande hinüber, und können sicher sein, dass es zur aufführung kommen kann. das ist ohne einen stand von berufsmässigen sängern und musikern nicht möglich, wenn auch vieler orten die dilettanten so weit geschult sein mochten, um selbst ausübend aufzutreten. dieses und noch viel- mehr dass solche gedichte auf leidenschaftlichen beifall und auf verständnis rechnen konnten, zeugt auf das nachdrücklichste von einer durchgehenden gleichartigen bildung, einem keinesweges verächtlichen niveau der cultur durch die ganze gesellschaft hin, für welche diese poesie gilt. allerdings ist es nur eine oberste schicht, ein geschlossener kreis des adels, mit dem dieselbe überhaupt rechnet. so weit dieser adel reicht, reicht sie, über viele lande hin, aber nirgends tief in das volk hinunter, d. h. genau soweit wie die ideale des dorischen adels gelten, die sie ja zum ausdruck bringt. es ist das ganze Griechentum, mit ausschluss des eigentlichen Ioniens; doch auch die Inseln und das nicht ionische Asien nimmt nur vereinzelt daran teil. allerdings lag in der gemeinsamkeit des standes- gefühles, der cultur und der ideale alles das was diese zeit an nationaler einheit besass. es war nicht wenig: es hat der einheit des volkes mächtig vorgearbeitet. allein wir sehen am besten daraus, dass in den nicht do- rischen landschaften Euboia und Attika eben die bevorrechteten classen, welche als ständisch gleichberechtigt an dieser cultur teilnahmen, gestürzt werden mussten, damit der nationale staat entstünde und die cultur das hellenische volk als ganzes durchdränge, wie unmöglich es war, auf diesem boden die einigung durchzuführen. Athen hat auf allen gebieten den kampf mit dieser gesellschaft aufgenommen; die cultur hat es über- wie diese haben die ältesten attischen tragiker ihre chöre gedichtet: erst die weitere
rein attische entwickelung hat die sprache der chöre immer mehr attisch gemacht, aber niemals die fremde herkunft derselben ganz verwischt. genau wie in den tragi- schen ist es in den lyrischen liedern der Athener, den dithyramben, gegangen. Was ist eine attische tragödie? willkürlich einmal gegebenen gesetze werden jetzt streng befolgt. sie istinternational wie die des epos, weil sie nirgend national ist. wie im epos ist auch der stil ein conventioneller, fest gefügter. all das ist nur erklärlich durch die arbeit von generationen und die kunstmäſsige, wenn man will handwerksmäſsige, schulung der dichter. diese stehen also nicht wesentlich anders da als die epiker. der rhapsode war freilich zugleich dichter und ausübender künstler; auch Alkman war es noch bis zu einem gewissen grade gewesen. das war jetzt anders. aber die handwerks- mäſsige ausbildung war nun für die sänger nicht minder nötig, als für die dichter. denn diese ziehen nicht nur durch alle gauen und setzen voraus, ihr instrument überall vorzufinden, sie senden auch ein werk in ferne lande hinüber, und können sicher sein, daſs es zur aufführung kommen kann. das ist ohne einen stand von berufsmäſsigen sängern und musikern nicht möglich, wenn auch vieler orten die dilettanten so weit geschult sein mochten, um selbst ausübend aufzutreten. dieses und noch viel- mehr daſs solche gedichte auf leidenschaftlichen beifall und auf verständnis rechnen konnten, zeugt auf das nachdrücklichste von einer durchgehenden gleichartigen bildung, einem keinesweges verächtlichen niveau der cultur durch die ganze gesellschaft hin, für welche diese poesie gilt. allerdings ist es nur eine oberste schicht, ein geschlossener kreis des adels, mit dem dieselbe überhaupt rechnet. so weit dieser adel reicht, reicht sie, über viele lande hin, aber nirgends tief in das volk hinunter, d. h. genau soweit wie die ideale des dorischen adels gelten, die sie ja zum ausdruck bringt. es ist das ganze Griechentum, mit ausschluſs des eigentlichen Ioniens; doch auch die Inseln und das nicht ionische Asien nimmt nur vereinzelt daran teil. allerdings lag in der gemeinsamkeit des standes- gefühles, der cultur und der ideale alles das was diese zeit an nationaler einheit besaſs. es war nicht wenig: es hat der einheit des volkes mächtig vorgearbeitet. allein wir sehen am besten daraus, daſs in den nicht do- rischen landschaften Euboia und Attika eben die bevorrechteten classen, welche als ständisch gleichberechtigt an dieser cultur teilnahmen, gestürzt werden muſsten, damit der nationale staat entstünde und die cultur das hellenische volk als ganzes durchdränge, wie unmöglich es war, auf diesem boden die einigung durchzuführen. Athen hat auf allen gebieten den kampf mit dieser gesellschaft aufgenommen; die cultur hat es über- wie diese haben die ältesten attischen tragiker ihre chöre gedichtet: erst die weitere
rein attische entwickelung hat die sprache der chöre immer mehr attisch gemacht, aber niemals die fremde herkunft derselben ganz verwischt. genau wie in den tragi- schen ist es in den lyrischen liedern der Athener, den dithyramben, gegangen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0094" n="74"/><fw place="top" type="header">Was ist eine attische tragödie?</fw><lb/> willkürlich einmal gegebenen gesetze werden jetzt streng befolgt. sie ist<lb/> international wie die des epos, weil sie nirgend national ist. wie im<lb/> epos ist auch der stil ein conventioneller, fest gefügter. all das ist nur<lb/> erklärlich durch die arbeit von generationen und die kunstmäſsige, wenn<lb/> man will handwerksmäſsige, schulung der dichter. diese stehen also nicht<lb/> wesentlich anders da als die epiker. der rhapsode war freilich zugleich<lb/> dichter und ausübender künstler; auch Alkman war es noch bis zu einem<lb/> gewissen grade gewesen. das war jetzt anders. aber die handwerks-<lb/> mäſsige ausbildung war nun für die sänger nicht minder nötig, als für die<lb/> dichter. denn diese ziehen nicht nur durch alle gauen und setzen voraus,<lb/> ihr instrument überall vorzufinden, sie senden auch ein werk in ferne<lb/> lande hinüber, und können sicher sein, daſs es zur aufführung kommen<lb/> kann. das ist ohne einen stand von berufsmäſsigen sängern und musikern<lb/> nicht möglich, wenn auch vieler orten die dilettanten so weit geschult<lb/> sein mochten, um selbst ausübend aufzutreten. dieses und noch viel-<lb/> mehr daſs solche gedichte auf leidenschaftlichen beifall und auf verständnis<lb/> rechnen konnten, zeugt auf das nachdrücklichste von einer durchgehenden<lb/> gleichartigen bildung, einem keinesweges verächtlichen niveau der cultur<lb/> durch die ganze gesellschaft hin, für welche diese poesie gilt. allerdings<lb/> ist es nur eine oberste schicht, ein geschlossener kreis des adels, mit<lb/> dem dieselbe überhaupt rechnet. so weit dieser adel reicht, reicht sie,<lb/> über viele lande hin, aber nirgends tief in das volk hinunter, d. h. genau<lb/> soweit wie die ideale des dorischen adels gelten, die sie ja zum ausdruck<lb/> bringt. es ist das ganze Griechentum, mit ausschluſs des eigentlichen<lb/> Ioniens; doch auch die Inseln und das nicht ionische Asien nimmt nur<lb/> vereinzelt daran teil. allerdings lag in der gemeinsamkeit des standes-<lb/> gefühles, der cultur und der ideale alles das was diese zeit an nationaler<lb/> einheit besaſs. es war nicht wenig: es hat der einheit des volkes mächtig<lb/> vorgearbeitet. allein wir sehen am besten daraus, daſs in den nicht do-<lb/> rischen landschaften Euboia und Attika eben die bevorrechteten classen,<lb/> welche als ständisch gleichberechtigt an dieser cultur teilnahmen, gestürzt<lb/> werden muſsten, damit der nationale staat entstünde und die cultur das<lb/> hellenische volk als ganzes durchdränge, wie unmöglich es war, auf<lb/> diesem boden die einigung durchzuführen. Athen hat auf allen gebieten<lb/> den kampf mit dieser gesellschaft aufgenommen; die cultur hat es über-<lb/><note xml:id="note-0094" prev="#note-0093" place="foot" n="36)">wie diese haben die ältesten attischen tragiker ihre chöre gedichtet: erst die weitere<lb/> rein attische entwickelung hat die sprache der chöre immer mehr attisch gemacht,<lb/> aber niemals die fremde herkunft derselben ganz verwischt. genau wie in den tragi-<lb/> schen ist es in den lyrischen liedern der Athener, den dithyramben, gegangen.</note><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [74/0094]
Was ist eine attische tragödie?
willkürlich einmal gegebenen gesetze werden jetzt streng befolgt. sie ist
international wie die des epos, weil sie nirgend national ist. wie im
epos ist auch der stil ein conventioneller, fest gefügter. all das ist nur
erklärlich durch die arbeit von generationen und die kunstmäſsige, wenn
man will handwerksmäſsige, schulung der dichter. diese stehen also nicht
wesentlich anders da als die epiker. der rhapsode war freilich zugleich
dichter und ausübender künstler; auch Alkman war es noch bis zu einem
gewissen grade gewesen. das war jetzt anders. aber die handwerks-
mäſsige ausbildung war nun für die sänger nicht minder nötig, als für die
dichter. denn diese ziehen nicht nur durch alle gauen und setzen voraus,
ihr instrument überall vorzufinden, sie senden auch ein werk in ferne
lande hinüber, und können sicher sein, daſs es zur aufführung kommen
kann. das ist ohne einen stand von berufsmäſsigen sängern und musikern
nicht möglich, wenn auch vieler orten die dilettanten so weit geschult
sein mochten, um selbst ausübend aufzutreten. dieses und noch viel-
mehr daſs solche gedichte auf leidenschaftlichen beifall und auf verständnis
rechnen konnten, zeugt auf das nachdrücklichste von einer durchgehenden
gleichartigen bildung, einem keinesweges verächtlichen niveau der cultur
durch die ganze gesellschaft hin, für welche diese poesie gilt. allerdings
ist es nur eine oberste schicht, ein geschlossener kreis des adels, mit
dem dieselbe überhaupt rechnet. so weit dieser adel reicht, reicht sie,
über viele lande hin, aber nirgends tief in das volk hinunter, d. h. genau
soweit wie die ideale des dorischen adels gelten, die sie ja zum ausdruck
bringt. es ist das ganze Griechentum, mit ausschluſs des eigentlichen
Ioniens; doch auch die Inseln und das nicht ionische Asien nimmt nur
vereinzelt daran teil. allerdings lag in der gemeinsamkeit des standes-
gefühles, der cultur und der ideale alles das was diese zeit an nationaler
einheit besaſs. es war nicht wenig: es hat der einheit des volkes mächtig
vorgearbeitet. allein wir sehen am besten daraus, daſs in den nicht do-
rischen landschaften Euboia und Attika eben die bevorrechteten classen,
welche als ständisch gleichberechtigt an dieser cultur teilnahmen, gestürzt
werden muſsten, damit der nationale staat entstünde und die cultur das
hellenische volk als ganzes durchdränge, wie unmöglich es war, auf
diesem boden die einigung durchzuführen. Athen hat auf allen gebieten
den kampf mit dieser gesellschaft aufgenommen; die cultur hat es über-
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36) wie diese haben die ältesten attischen tragiker ihre chöre gedichtet: erst die weitere
rein attische entwickelung hat die sprache der chöre immer mehr attisch gemacht,
aber niemals die fremde herkunft derselben ganz verwischt. genau wie in den tragi-
schen ist es in den lyrischen liedern der Athener, den dithyramben, gegangen.
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