Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Aristoteles. ist die politische theorie des Aristoteles und seine construction des bestenstaates für die geschichtliche und rechtliche auffassung der concreten erscheinungen der griechischen geschichte von geringer bedeutung. es ist zeit, dass wir in der poesie nicht mehr anders vorgehen. nicht mehr Aristoteles der aesthetiker, sondern Aristoteles der historiker ist der ausgangspunkt unserer betrachtung. wenn wir uns zu dem geschicht- lichen verständnis der attischen dramen durchgearbeitet haben, dann können wir fragen, ob die aesthetische theorie des Aristoteles für sie das richtige getroffen hat, und in wie weit seine ansicht von dem wesen der kunst absolut richtig ist. um die wirkung der tragödie auf Aristo- teles oder gar auf uns haben wir uns zunächst nicht im mindesten zu kümmern, sondern um die absicht ihrer dichter. es kann uns also auch die vergleichung mit irgend welcher anderen dramatischen poesie nichts helfen, ganz abgesehen davon, dass doch alle und jede dramatische poesie von den Athenern abstammt 5). wir wollen ja weder eine tragödie schreiben noch schreiben lehren, sondern die welche wir besitzen ver- stehen. dazu ist denn freilich nötig zu wissen, welche aufgabe die dichter lösen wollten, was ihr volk von ihnen erwartete, und weit genug wird uns der weg führen, ehe wir dieses ziel erreichen: aber aus seiner ver- gangenheit, nicht aus seiner zukunft erklären wir das attische drama. Wenn es uns verstattet wäre, überall bis zu den quellen vorzudringen,Fundamen- 5) In betreff der indischen ist die entscheidung dadurch erschwert, dass sie erst jahrhunderte nach dem erlöschen der griechischen spiele zur blüte kommt; deshalb ist die unmittelbare vergleichung (Windisch Abhdlg. des 5. orientalistencongresses) wenig überzeugend, und ein stricter historischer beweis wird erst möglich sein, wenn auf indischem gebiete die forschung jahrhunderte vordringen kann. aber dass in den zeiten der griechischen vormacht im osten auch die techniten ihre höchste blüte gehabt haben, steht fest, und man kann gar nicht bezweifeln, dass an den höfen der helle- nischen fürsten Indiens im 2. jahrhundert scenische spiele gewesen sind, wenn sich gar die Parther im 1. jahrhundert die Bakchen vorspielen lassen. und dass die hellenische civilisation auf die Arier ganz intensiv gewirkt hat, zeigt am besten die sculptur (Curtius Arch. Zeit. 1876, 90). v. Wilamowitz I. 4
Aristoteles. ist die politische theorie des Aristoteles und seine construction des bestenstaates für die geschichtliche und rechtliche auffassung der concreten erscheinungen der griechischen geschichte von geringer bedeutung. es ist zeit, daſs wir in der poesie nicht mehr anders vorgehen. nicht mehr Aristoteles der aesthetiker, sondern Aristoteles der historiker ist der ausgangspunkt unserer betrachtung. wenn wir uns zu dem geschicht- lichen verständnis der attischen dramen durchgearbeitet haben, dann können wir fragen, ob die aesthetische theorie des Aristoteles für sie das richtige getroffen hat, und in wie weit seine ansicht von dem wesen der kunst absolut richtig ist. um die wirkung der tragödie auf Aristo- teles oder gar auf uns haben wir uns zunächst nicht im mindesten zu kümmern, sondern um die absicht ihrer dichter. es kann uns also auch die vergleichung mit irgend welcher anderen dramatischen poesie nichts helfen, ganz abgesehen davon, daſs doch alle und jede dramatische poesie von den Athenern abstammt 5). wir wollen ja weder eine tragödie schreiben noch schreiben lehren, sondern die welche wir besitzen ver- stehen. dazu ist denn freilich nötig zu wissen, welche aufgabe die dichter lösen wollten, was ihr volk von ihnen erwartete, und weit genug wird uns der weg führen, ehe wir dieses ziel erreichen: aber aus seiner ver- gangenheit, nicht aus seiner zukunft erklären wir das attische drama. Wenn es uns verstattet wäre, überall bis zu den quellen vorzudringen,Fundamen- 5) In betreff der indischen ist die entscheidung dadurch erschwert, daſs sie erst jahrhunderte nach dem erlöschen der griechischen spiele zur blüte kommt; deshalb ist die unmittelbare vergleichung (Windisch Abhdlg. des 5. orientalistencongresses) wenig überzeugend, und ein stricter historischer beweis wird erst möglich sein, wenn auf indischem gebiete die forschung jahrhunderte vordringen kann. aber daſs in den zeiten der griechischen vormacht im osten auch die techniten ihre höchste blüte gehabt haben, steht fest, und man kann gar nicht bezweifeln, daſs an den höfen der helle- nischen fürsten Indiens im 2. jahrhundert scenische spiele gewesen sind, wenn sich gar die Parther im 1. jahrhundert die Bakchen vorspielen lassen. und daſs die hellenische civilisation auf die Arier ganz intensiv gewirkt hat, zeigt am besten die sculptur (Curtius Arch. Zeit. 1876, 90). v. Wilamowitz I. 4
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0069" n="49"/><fw place="top" type="header">Aristoteles.</fw><lb/> ist die politische theorie des Aristoteles und seine construction des besten<lb/> staates für die geschichtliche und rechtliche auffassung der concreten<lb/> erscheinungen der griechischen geschichte von geringer bedeutung. es<lb/> ist zeit, daſs wir in der poesie nicht mehr anders vorgehen. nicht mehr<lb/> Aristoteles der aesthetiker, sondern Aristoteles der historiker ist der<lb/> ausgangspunkt unserer betrachtung. wenn wir uns zu dem geschicht-<lb/> lichen verständnis der attischen dramen durchgearbeitet haben, dann<lb/> können wir fragen, ob die aesthetische theorie des Aristoteles für sie<lb/> das richtige getroffen hat, und in wie weit seine ansicht von dem wesen<lb/> der kunst absolut richtig ist. um die wirkung der tragödie auf Aristo-<lb/> teles oder gar auf uns haben wir uns zunächst nicht im mindesten zu<lb/> kümmern, sondern um die absicht ihrer dichter. es kann uns also<lb/> auch die vergleichung mit irgend welcher anderen dramatischen poesie<lb/> nichts helfen, ganz abgesehen davon, daſs doch alle und jede dramatische<lb/> poesie von den Athenern abstammt <note place="foot" n="5)">In betreff der indischen ist die entscheidung dadurch erschwert, daſs sie<lb/> erst jahrhunderte nach dem erlöschen der griechischen spiele zur blüte kommt; deshalb<lb/> ist die unmittelbare vergleichung (Windisch Abhdlg. des 5. orientalistencongresses)<lb/> wenig überzeugend, und ein stricter historischer beweis wird erst möglich sein, wenn<lb/> auf indischem gebiete die forschung jahrhunderte vordringen kann. aber daſs in den<lb/> zeiten der griechischen vormacht im osten auch die techniten ihre höchste blüte gehabt<lb/> haben, steht fest, und man kann gar nicht bezweifeln, daſs an den höfen der helle-<lb/> nischen fürsten Indiens im 2. jahrhundert scenische spiele gewesen sind, wenn<lb/> sich gar die Parther im 1. jahrhundert die Bakchen vorspielen lassen. und daſs<lb/> die hellenische civilisation auf die Arier ganz intensiv gewirkt hat, zeigt am besten<lb/> die sculptur (Curtius Arch. Zeit. 1876, 90).</note>. wir wollen ja weder eine tragödie<lb/> schreiben noch schreiben lehren, sondern die welche wir besitzen ver-<lb/> stehen. dazu ist denn freilich nötig zu wissen, welche aufgabe die dichter<lb/> lösen wollten, was ihr volk von ihnen erwartete, und weit genug wird<lb/> uns der weg führen, ehe wir dieses ziel erreichen: aber aus seiner ver-<lb/> gangenheit, nicht aus seiner zukunft erklären wir das attische drama.</p><lb/> <p>Wenn es uns verstattet wäre, überall bis zu den quellen vorzudringen,<note place="right">Fundamen-<lb/> tale tat-<lb/> sachen.</note><lb/> so würden wir auch bei dieser historischen forschung von Aristoteles ab-<lb/> sehen. aber uns sind nur trümmer überliefert, so daſs wir längst nicht<lb/> alles mehr mit eignen augen übersehen und prüfen können, sondern<lb/> auf die zeugnisse anderer angewiesen sind. und hier ist es, wo Aristo-<lb/> teles mit voller autorität eintritt; nur wenige zeugnisse, die wir anders-<lb/> woher auflesen, die aber auch zumeist auf seine schule zurückgehen,<lb/> treten hinzu; erst nach peinlichster prüfung reihen wir sie ein, und für<lb/> die hauptsache würden wir sie auch entbehren können. unser fundament<lb/> <fw place="bottom" type="sig">v. Wilamowitz I. 4</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [49/0069]
Aristoteles.
ist die politische theorie des Aristoteles und seine construction des besten
staates für die geschichtliche und rechtliche auffassung der concreten
erscheinungen der griechischen geschichte von geringer bedeutung. es
ist zeit, daſs wir in der poesie nicht mehr anders vorgehen. nicht mehr
Aristoteles der aesthetiker, sondern Aristoteles der historiker ist der
ausgangspunkt unserer betrachtung. wenn wir uns zu dem geschicht-
lichen verständnis der attischen dramen durchgearbeitet haben, dann
können wir fragen, ob die aesthetische theorie des Aristoteles für sie
das richtige getroffen hat, und in wie weit seine ansicht von dem wesen
der kunst absolut richtig ist. um die wirkung der tragödie auf Aristo-
teles oder gar auf uns haben wir uns zunächst nicht im mindesten zu
kümmern, sondern um die absicht ihrer dichter. es kann uns also
auch die vergleichung mit irgend welcher anderen dramatischen poesie
nichts helfen, ganz abgesehen davon, daſs doch alle und jede dramatische
poesie von den Athenern abstammt 5). wir wollen ja weder eine tragödie
schreiben noch schreiben lehren, sondern die welche wir besitzen ver-
stehen. dazu ist denn freilich nötig zu wissen, welche aufgabe die dichter
lösen wollten, was ihr volk von ihnen erwartete, und weit genug wird
uns der weg führen, ehe wir dieses ziel erreichen: aber aus seiner ver-
gangenheit, nicht aus seiner zukunft erklären wir das attische drama.
Wenn es uns verstattet wäre, überall bis zu den quellen vorzudringen,
so würden wir auch bei dieser historischen forschung von Aristoteles ab-
sehen. aber uns sind nur trümmer überliefert, so daſs wir längst nicht
alles mehr mit eignen augen übersehen und prüfen können, sondern
auf die zeugnisse anderer angewiesen sind. und hier ist es, wo Aristo-
teles mit voller autorität eintritt; nur wenige zeugnisse, die wir anders-
woher auflesen, die aber auch zumeist auf seine schule zurückgehen,
treten hinzu; erst nach peinlichster prüfung reihen wir sie ein, und für
die hauptsache würden wir sie auch entbehren können. unser fundament
Fundamen-
tale tat-
sachen.
5) In betreff der indischen ist die entscheidung dadurch erschwert, daſs sie
erst jahrhunderte nach dem erlöschen der griechischen spiele zur blüte kommt; deshalb
ist die unmittelbare vergleichung (Windisch Abhdlg. des 5. orientalistencongresses)
wenig überzeugend, und ein stricter historischer beweis wird erst möglich sein, wenn
auf indischem gebiete die forschung jahrhunderte vordringen kann. aber daſs in den
zeiten der griechischen vormacht im osten auch die techniten ihre höchste blüte gehabt
haben, steht fest, und man kann gar nicht bezweifeln, daſs an den höfen der helle-
nischen fürsten Indiens im 2. jahrhundert scenische spiele gewesen sind, wenn
sich gar die Parther im 1. jahrhundert die Bakchen vorspielen lassen. und daſs
die hellenische civilisation auf die Arier ganz intensiv gewirkt hat, zeigt am besten
die sculptur (Curtius Arch. Zeit. 1876, 90).
v. Wilamowitz I. 4
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |