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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Gehalt des dramas.

Aber diese hoffnungsfreudigen töne sind nicht die einzigen, in welche
das drama ausklingt, ja es sind nicht die welche am meisten ins ohr
fallen; der dichter schlägt sie an, ahnungsvoll mehr und in ein anderes
reich des empfindungslebens weisend, als dem sein held und die helden
seines volkes angehören. es ist ja nicht der appell der freundschaft,
welchem Herakles sich ergibt: er nimmt die kraft des letzten entschlusses
wenigstens scheinbar aus eigner seele. Euripides wollte Herakles als ideal
der selbstgenügenden menschenkraft trotz alledem darstellen, nur nicht
das der archaischen, sondern das der sophistenzeit. darin liegt eine ge-
wisse incongruenz, eine schädigung des wunderbaren freundschaftsmotivs,
gewiss: aber darin liegt zugleich die tiefste offenbarung seines eigenen
glaubens. Herakles der sohn des Zeus, den Hera verfolgt, Hera und ihre
eifersucht, die ganze bunte götterwelt und die heldensage, das ist ja
alles nicht wahr, das ist ja nichts als eine gotteslästerliche erfindung der
dichter. wenn es eine gottheit gibt, so darf ihr nichts von menschen-
ähnlichkeit und beschränktheit anhaften. so schlägt Herakles mit den
waffen des Xenophanes die ganze schöne welt in trümmer. seine eigenen
gotteslästerungen fallen damit freilich hin: aber um so entsetzlicher lastet
auf ihm der fluch seiner eigenen menschlichen sünde. und ob es einen
solchen sittlichen gott gibt, darauf erfolgt keine antwort. das ist ant-
wort genug: der helle jubelruf über die göttliche gerechtigkeit, den der
chor vorher erhoben hat (772), gehört nicht nur dem teile des dramas
an, der die voraussetzungen der mythen fest hielt, er ist sofort durch
Iris und Lyssa lügen gestraft. nein, Herakles lehrt uns etwas anderes:
'elend' ist das stichwort seiner letzten rede. das leben ist auf seinen
wert hin geprüft und hat die probe schlecht bestanden: so urteilte im
angesicht des todes auch Amphitryon (502). aber der schloss daraus was
die menge schliesst, geniesse das heut: Herakles sieht tiefer. aber er
lebt weiter, er trägt dies sclaventum selbst und bittet die seinen, ihm
tragen zu helfen. ach, zu leben ist unendlich schwerer als das leben
fortzuwerfen: aber das ist menschenadel und menschenmut, den schritt
der feigheit nicht zu tun. so überwindet der weltenüberwinder sich selbst;
aber ach, wozu? dem elend und der schwachheit des daseins fest und
ohne illusion ins auge zu schauen, und zu sprechen: ich trag' es dennoch53 a).

53 a) In Georg Forsters briefen aus Paris findet sich dieselbe gesinnung wieder,
die Herakles und Euripides hier äussern: und vielleicht hilft diese äusserung der
verzweiflung dem leser am besten dazu, den tiefen schauder nachzuempfinden, den
Euripides erwecken will, aber erst erweckt, wenn man durch die hülle der stilisirung
hindurch dringt "für mich kann weiter nichts mehr sein als arbeit und mühe --
Gehalt des dramas.

Aber diese hoffnungsfreudigen töne sind nicht die einzigen, in welche
das drama ausklingt, ja es sind nicht die welche am meisten ins ohr
fallen; der dichter schlägt sie an, ahnungsvoll mehr und in ein anderes
reich des empfindungslebens weisend, als dem sein held und die helden
seines volkes angehören. es ist ja nicht der appell der freundschaft,
welchem Herakles sich ergibt: er nimmt die kraft des letzten entschlusses
wenigstens scheinbar aus eigner seele. Euripides wollte Herakles als ideal
der selbstgenügenden menschenkraft trotz alledem darstellen, nur nicht
das der archaischen, sondern das der sophistenzeit. darin liegt eine ge-
wisse incongruenz, eine schädigung des wunderbaren freundschaftsmotivs,
gewiſs: aber darin liegt zugleich die tiefste offenbarung seines eigenen
glaubens. Herakles der sohn des Zeus, den Hera verfolgt, Hera und ihre
eifersucht, die ganze bunte götterwelt und die heldensage, das ist ja
alles nicht wahr, das ist ja nichts als eine gotteslästerliche erfindung der
dichter. wenn es eine gottheit gibt, so darf ihr nichts von menschen-
ähnlichkeit und beschränktheit anhaften. so schlägt Herakles mit den
waffen des Xenophanes die ganze schöne welt in trümmer. seine eigenen
gotteslästerungen fallen damit freilich hin: aber um so entsetzlicher lastet
auf ihm der fluch seiner eigenen menschlichen sünde. und ob es einen
solchen sittlichen gott gibt, darauf erfolgt keine antwort. das ist ant-
wort genug: der helle jubelruf über die göttliche gerechtigkeit, den der
chor vorher erhoben hat (772), gehört nicht nur dem teile des dramas
an, der die voraussetzungen der mythen fest hielt, er ist sofort durch
Iris und Lyssa lügen gestraft. nein, Herakles lehrt uns etwas anderes:
‘elend’ ist das stichwort seiner letzten rede. das leben ist auf seinen
wert hin geprüft und hat die probe schlecht bestanden: so urteilte im
angesicht des todes auch Amphitryon (502). aber der schloſs daraus was
die menge schlieſst, genieſse das heut: Herakles sieht tiefer. aber er
lebt weiter, er trägt dies sclaventum selbst und bittet die seinen, ihm
tragen zu helfen. ach, zu leben ist unendlich schwerer als das leben
fortzuwerfen: aber das ist menschenadel und menschenmut, den schritt
der feigheit nicht zu tun. so überwindet der weltenüberwinder sich selbst;
aber ach, wozu? dem elend und der schwachheit des daseins fest und
ohne illusion ins auge zu schauen, und zu sprechen: ich trag’ es dennoch53 a).

53 a) In Georg Forsters briefen aus Paris findet sich dieselbe gesinnung wieder,
die Herakles und Euripides hier äuſsern: und vielleicht hilft diese äuſserung der
verzweiflung dem leser am besten dazu, den tiefen schauder nachzuempfinden, den
Euripides erwecken will, aber erst erweckt, wenn man durch die hülle der stilisirung
hindurch dringt “für mich kann weiter nichts mehr sein als arbeit und mühe —
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[377/0397] Gehalt des dramas. Aber diese hoffnungsfreudigen töne sind nicht die einzigen, in welche das drama ausklingt, ja es sind nicht die welche am meisten ins ohr fallen; der dichter schlägt sie an, ahnungsvoll mehr und in ein anderes reich des empfindungslebens weisend, als dem sein held und die helden seines volkes angehören. es ist ja nicht der appell der freundschaft, welchem Herakles sich ergibt: er nimmt die kraft des letzten entschlusses wenigstens scheinbar aus eigner seele. Euripides wollte Herakles als ideal der selbstgenügenden menschenkraft trotz alledem darstellen, nur nicht das der archaischen, sondern das der sophistenzeit. darin liegt eine ge- wisse incongruenz, eine schädigung des wunderbaren freundschaftsmotivs, gewiſs: aber darin liegt zugleich die tiefste offenbarung seines eigenen glaubens. Herakles der sohn des Zeus, den Hera verfolgt, Hera und ihre eifersucht, die ganze bunte götterwelt und die heldensage, das ist ja alles nicht wahr, das ist ja nichts als eine gotteslästerliche erfindung der dichter. wenn es eine gottheit gibt, so darf ihr nichts von menschen- ähnlichkeit und beschränktheit anhaften. so schlägt Herakles mit den waffen des Xenophanes die ganze schöne welt in trümmer. seine eigenen gotteslästerungen fallen damit freilich hin: aber um so entsetzlicher lastet auf ihm der fluch seiner eigenen menschlichen sünde. und ob es einen solchen sittlichen gott gibt, darauf erfolgt keine antwort. das ist ant- wort genug: der helle jubelruf über die göttliche gerechtigkeit, den der chor vorher erhoben hat (772), gehört nicht nur dem teile des dramas an, der die voraussetzungen der mythen fest hielt, er ist sofort durch Iris und Lyssa lügen gestraft. nein, Herakles lehrt uns etwas anderes: ‘elend’ ist das stichwort seiner letzten rede. das leben ist auf seinen wert hin geprüft und hat die probe schlecht bestanden: so urteilte im angesicht des todes auch Amphitryon (502). aber der schloſs daraus was die menge schlieſst, genieſse das heut: Herakles sieht tiefer. aber er lebt weiter, er trägt dies sclaventum selbst und bittet die seinen, ihm tragen zu helfen. ach, zu leben ist unendlich schwerer als das leben fortzuwerfen: aber das ist menschenadel und menschenmut, den schritt der feigheit nicht zu tun. so überwindet der weltenüberwinder sich selbst; aber ach, wozu? dem elend und der schwachheit des daseins fest und ohne illusion ins auge zu schauen, und zu sprechen: ich trag’ es dennoch 53 a). 53 a) In Georg Forsters briefen aus Paris findet sich dieselbe gesinnung wieder, die Herakles und Euripides hier äuſsern: und vielleicht hilft diese äuſserung der verzweiflung dem leser am besten dazu, den tiefen schauder nachzuempfinden, den Euripides erwecken will, aber erst erweckt, wenn man durch die hülle der stilisirung hindurch dringt “für mich kann weiter nichts mehr sein als arbeit und mühe —

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/397>, abgerufen am 22.11.2024.