in das reich des wunders mit entrückt wird. es gibt nur eine vergleich- bare scene, die visionen Kassandras vor der ermordung des Agamemnon und diese selbst. die vergleichung mag der leser anstellen und sich im einzelnen überzeugen, dass die beiden dichter jeder in seiner art ein höchstes erreicht haben.
Die wahnsinnsscenen haben im altertum wenigstens den verdienten erfolg gehabt; die in ihrer art ebenso vollkommene schlussscene dagegen viel weniger. es ist das begreiflich, denn sie gehört in form und gehalt weit eher auf eine moderne bühne, selbst hier aber würde sie von den breiten philistermassen nicht gewürdigt werden, denen die Natürliche tochter und der schluss des Tasso zu wenig handlung haben. in der tat, wie Goethe auf der höhe seiner kraft und künstlerischen reife in den tiefen des einfachsten strengst stilisirten dialoges die leidenschaften, begierden und schmerzen der menschenseele begräbt, weil er gelernt hat, dass nicht was wir äusserlich erdulden, sondern was im herzen be- schlossen bleibt, das wahrhaft tragische ist, so dass das äussere auge meint, es geschähe gar nichts: ebenso hier. sobald Herakles erwacht, ist handlung scheinbar nicht mehr vorhanden. er erfährt was er getan hat, will sterben, Theseus kommt, sie reden hin und her, aber nicht der zuspruch des Theseus, sondern ein freiwilliger, scheinbar ganz unver- mittelter entschluss bestimmt den Herakles nach Athen zu ziehen. ist das nicht etwa bloss eine zu weit ausgesponnene schlussscene ohne inneren wert? dann hätte Euripides schwer gefehlt, denn er führt eine neue person ein, auf deren erscheinen er kurz aber verständlich schon früh vorbereitet hat (619), und die er bei ihrem auftreten nicht nur selbst sich sehr passend einführen lässt, sondern durch ein kleines lyrisches stück hervorhebt: nach der bühnenpraxis ist also Theseus als eine wesentlich in die handlung eingreifende figur gekennzeichnet. aber allerdings, Theseus tut nicht viel, und er ist nicht einmal mit bestimmten farben als ein individueller charakter gekennzeichnet, und die immerhin nicht verächt- liche erwägung schlägt nicht durch, dass in Athen für Athener Theseus einer besonderen charakteristik nicht bedarf, da er ja immer vertreter Athens und seiner philoxenia und eusebeia ist. denn Euripides hat gerade hier am wenigsten mit den populären instincten der zeitgenossen gerechnet: wenn er Theseus nur als menschen und freund einführt, so muss er eben diese beschränkung gewollt haben.
Auch das kann nicht unabsichtlich sein, dass die äussere form der letzten scene so grell von der vorigen absticht. der chor wird geradezu als nicht vorhanden behandelt; selbst bei dem auftreten des Theseus, wo
Aufbau des dramas.
in das reich des wunders mit entrückt wird. es gibt nur eine vergleich- bare scene, die visionen Kassandras vor der ermordung des Agamemnon und diese selbst. die vergleichung mag der leser anstellen und sich im einzelnen überzeugen, daſs die beiden dichter jeder in seiner art ein höchstes erreicht haben.
Die wahnsinnsscenen haben im altertum wenigstens den verdienten erfolg gehabt; die in ihrer art ebenso vollkommene schluſsscene dagegen viel weniger. es ist das begreiflich, denn sie gehört in form und gehalt weit eher auf eine moderne bühne, selbst hier aber würde sie von den breiten philistermassen nicht gewürdigt werden, denen die Natürliche tochter und der schluſs des Tasso zu wenig handlung haben. in der tat, wie Goethe auf der höhe seiner kraft und künstlerischen reife in den tiefen des einfachsten strengst stilisirten dialoges die leidenschaften, begierden und schmerzen der menschenseele begräbt, weil er gelernt hat, daſs nicht was wir äuſserlich erdulden, sondern was im herzen be- schlossen bleibt, das wahrhaft tragische ist, so daſs das äuſsere auge meint, es geschähe gar nichts: ebenso hier. sobald Herakles erwacht, ist handlung scheinbar nicht mehr vorhanden. er erfährt was er getan hat, will sterben, Theseus kommt, sie reden hin und her, aber nicht der zuspruch des Theseus, sondern ein freiwilliger, scheinbar ganz unver- mittelter entschluſs bestimmt den Herakles nach Athen zu ziehen. ist das nicht etwa bloſs eine zu weit ausgesponnene schluſsscene ohne inneren wert? dann hätte Euripides schwer gefehlt, denn er führt eine neue person ein, auf deren erscheinen er kurz aber verständlich schon früh vorbereitet hat (619), und die er bei ihrem auftreten nicht nur selbst sich sehr passend einführen läſst, sondern durch ein kleines lyrisches stück hervorhebt: nach der bühnenpraxis ist also Theseus als eine wesentlich in die handlung eingreifende figur gekennzeichnet. aber allerdings, Theseus tut nicht viel, und er ist nicht einmal mit bestimmten farben als ein individueller charakter gekennzeichnet, und die immerhin nicht verächt- liche erwägung schlägt nicht durch, daſs in Athen für Athener Theseus einer besonderen charakteristik nicht bedarf, da er ja immer vertreter Athens und seiner φιλοξενία und εὐσέβεια ist. denn Euripides hat gerade hier am wenigsten mit den populären instincten der zeitgenossen gerechnet: wenn er Theseus nur als menschen und freund einführt, so muſs er eben diese beschränkung gewollt haben.
Auch das kann nicht unabsichtlich sein, daſs die äuſsere form der letzten scene so grell von der vorigen absticht. der chor wird geradezu als nicht vorhanden behandelt; selbst bei dem auftreten des Theseus, wo
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[373/0393]
Aufbau des dramas.
in das reich des wunders mit entrückt wird. es gibt nur eine vergleich-
bare scene, die visionen Kassandras vor der ermordung des Agamemnon
und diese selbst. die vergleichung mag der leser anstellen und sich im
einzelnen überzeugen, daſs die beiden dichter jeder in seiner art ein
höchstes erreicht haben.
Die wahnsinnsscenen haben im altertum wenigstens den verdienten
erfolg gehabt; die in ihrer art ebenso vollkommene schluſsscene dagegen
viel weniger. es ist das begreiflich, denn sie gehört in form und
gehalt weit eher auf eine moderne bühne, selbst hier aber würde
sie von den breiten philistermassen nicht gewürdigt werden, denen die
Natürliche tochter und der schluſs des Tasso zu wenig handlung haben.
in der tat, wie Goethe auf der höhe seiner kraft und künstlerischen reife
in den tiefen des einfachsten strengst stilisirten dialoges die leidenschaften,
begierden und schmerzen der menschenseele begräbt, weil er gelernt
hat, daſs nicht was wir äuſserlich erdulden, sondern was im herzen be-
schlossen bleibt, das wahrhaft tragische ist, so daſs das äuſsere auge
meint, es geschähe gar nichts: ebenso hier. sobald Herakles erwacht,
ist handlung scheinbar nicht mehr vorhanden. er erfährt was er getan
hat, will sterben, Theseus kommt, sie reden hin und her, aber nicht der
zuspruch des Theseus, sondern ein freiwilliger, scheinbar ganz unver-
mittelter entschluſs bestimmt den Herakles nach Athen zu ziehen. ist
das nicht etwa bloſs eine zu weit ausgesponnene schluſsscene ohne inneren
wert? dann hätte Euripides schwer gefehlt, denn er führt eine neue
person ein, auf deren erscheinen er kurz aber verständlich schon früh
vorbereitet hat (619), und die er bei ihrem auftreten nicht nur selbst sich
sehr passend einführen läſst, sondern durch ein kleines lyrisches stück
hervorhebt: nach der bühnenpraxis ist also Theseus als eine wesentlich in
die handlung eingreifende figur gekennzeichnet. aber allerdings, Theseus
tut nicht viel, und er ist nicht einmal mit bestimmten farben als ein
individueller charakter gekennzeichnet, und die immerhin nicht verächt-
liche erwägung schlägt nicht durch, daſs in Athen für Athener Theseus
einer besonderen charakteristik nicht bedarf, da er ja immer vertreter
Athens und seiner φιλοξενία und εὐσέβεια ist. denn Euripides hat
gerade hier am wenigsten mit den populären instincten der zeitgenossen
gerechnet: wenn er Theseus nur als menschen und freund einführt, so
muſs er eben diese beschränkung gewollt haben.
Auch das kann nicht unabsichtlich sein, daſs die äuſsere form der
letzten scene so grell von der vorigen absticht. der chor wird geradezu
als nicht vorhanden behandelt; selbst bei dem auftreten des Theseus, wo
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/393>, abgerufen am 16.02.2025.
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