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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles des Euripides.
sehr starke freiheiten erlaubt, arbeitet Euripides mit zunehmendem alter
immer strenger, so dass die dramen seines letzten jahrzehntes fast gar
keine solche hiate mehr zeigen. der Herakles steht zu diesen; er ver-
kürzt nur ein schliessendes ai, den diphthong, welcher sich dazu am
leichtesten herbeilässt, in klinetai 1030, und ausserdem kai 1017, zwar
in einem anapäst, der für dochmius eintritt; aber kai hat in allen jahr-
hunderten freiere behandlung gestattet. wollte man hiernach allein gehen,
so würde der Herakles unter Troerinnen und Elektra herabgerückt werden
müssen. aber es sind der verse, welche für solche hiate überhaupt die
möglichkeit gewährten, sehr viel weniger als in jenen dramen, so dass
sich von dieser seite nichts gegen einen etwas höheren ansatz sagen lässt,
zumal dieselben ursachen auch bei den Hiketiden den entsprechenden
erfolg gehabt haben.

Sehr stark ins gewicht fällt die anwendung des trochäischen tetra-
meters in einer ganzen scene, allerdings einer solchen von höchster
leidenschaft mit entsprechender steigerung auch des sprachlichen aus-
drucks. die trochäen waren ein lebhaftes tanzmass und beherrschten des-
halb, wie Aristoteles bezeugt, die älteste tragödie, wie wir sie auch in
der epicharmischen posse und der aristophanischen komödie viel verwandt
finden. wir lesen noch in den Persern des Aischylos eine trochäische
scene; aber der ruhige dialog drängte das tanzmass zurück, und so ver-
wendet es Aischylos später nur am schlusse des Agamemnon in einer
weise, wie sonst die anapäste, und ebenso verfährt Sophokles im schlusse
des königs Oedipus. sonst fehlen die trochäen bis auf die scene des
Herakles und eine ganz entsprechend lebhafte in den Troerinnen (444--61).
dann aber greift die tragödie nach immer stärkeren mitteln. Euripides, der
den ton angibt, nimmt neben den künsten des neuen dithyrambus auch
die der ältesten mehr musikalischen tragödie wieder auf. so lesen wir
trochäische scenen oder scenenteile in Ion Helene beiden Iphigenien Phoe-
nissen Orestes Bakchen Andromeda Archelaos, wozu noch Meleagros und
Oidipus kommen, welche aus anderen gründen für etwa gleichzeitig mit
dem Herakles gelten dürfen 22). Sophokles hat sich etwas mehr zurück-

22) Nur scheinbar streiten mit der regel die bruchstücke 30 und 808, die den
älteren dramen Aiolos und Phoinix angehören: all' omos | oiktros tis aion patridos
eklipein orous und taphane | tekmerioisin eikotos alisketai. das satyrspiel Auto-
lykos zeigt auch tetrameter: das beweist nichts, da wir den stil und die zeit der
satyrspiele nicht kennen. -- die deutschen können und wollen sich nur sehr schwer
daran gewöhnen, dass ihre s. g. nachbildungen antiker masse einen ganz verschie-
denen charakter von den griechischen tragen; sie recitiren griechische trochaeen
nach dem muster 'nächtlich am Busento lispeln' oder 'preisend mit viel schönen

Der Herakles des Euripides.
sehr starke freiheiten erlaubt, arbeitet Euripides mit zunehmendem alter
immer strenger, so daſs die dramen seines letzten jahrzehntes fast gar
keine solche hiate mehr zeigen. der Herakles steht zu diesen; er ver-
kürzt nur ein schlieſsendes αι, den diphthong, welcher sich dazu am
leichtesten herbeiläſst, in κλίνεται 1030, und auſserdem καί 1017, zwar
in einem anapäst, der für dochmius eintritt; aber καί hat in allen jahr-
hunderten freiere behandlung gestattet. wollte man hiernach allein gehen,
so würde der Herakles unter Troerinnen und Elektra herabgerückt werden
müssen. aber es sind der verse, welche für solche hiate überhaupt die
möglichkeit gewährten, sehr viel weniger als in jenen dramen, so daſs
sich von dieser seite nichts gegen einen etwas höheren ansatz sagen läſst,
zumal dieselben ursachen auch bei den Hiketiden den entsprechenden
erfolg gehabt haben.

Sehr stark ins gewicht fällt die anwendung des trochäischen tetra-
meters in einer ganzen scene, allerdings einer solchen von höchster
leidenschaft mit entsprechender steigerung auch des sprachlichen aus-
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halb, wie Aristoteles bezeugt, die älteste tragödie, wie wir sie auch in
der epicharmischen posse und der aristophanischen komödie viel verwandt
finden. wir lesen noch in den Persern des Aischylos eine trochäische
scene; aber der ruhige dialog drängte das tanzmaſs zurück, und so ver-
wendet es Aischylos später nur am schlusse des Agamemnon in einer
weise, wie sonst die anapäste, und ebenso verfährt Sophokles im schlusse
des königs Oedipus. sonst fehlen die trochäen bis auf die scene des
Herakles und eine ganz entsprechend lebhafte in den Troerinnen (444—61).
dann aber greift die tragödie nach immer stärkeren mitteln. Euripides, der
den ton angibt, nimmt neben den künsten des neuen dithyrambus auch
die der ältesten mehr musikalischen tragödie wieder auf. so lesen wir
trochäische scenen oder scenenteile in Ion Helene beiden Iphigenien Phoe-
nissen Orestes Bakchen Andromeda Archelaos, wozu noch Meleagros und
Oidipus kommen, welche aus anderen gründen für etwa gleichzeitig mit
dem Herakles gelten dürfen 22). Sophokles hat sich etwas mehr zurück-

22) Nur scheinbar streiten mit der regel die bruchstücke 30 und 808, die den
älteren dramen Aiolos und Phoinix angehören: ἀλλ᾽ ὁμῶς | οἰκτρός τις αἰὼν πατρίδος
ἐκλιπεῑν ὅρους und τἀφανῆ | τεκμηρίοισιν εἰκότως ἁλίσκεται. das satyrspiel Auto-
lykos zeigt auch tetrameter: das beweist nichts, da wir den stil und die zeit der
satyrspiele nicht kennen. — die deutschen können und wollen sich nur sehr schwer
daran gewöhnen, daſs ihre s. g. nachbildungen antiker maſse einen ganz verschie-
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[350/0370] Der Herakles des Euripides. sehr starke freiheiten erlaubt, arbeitet Euripides mit zunehmendem alter immer strenger, so daſs die dramen seines letzten jahrzehntes fast gar keine solche hiate mehr zeigen. der Herakles steht zu diesen; er ver- kürzt nur ein schlieſsendes αι, den diphthong, welcher sich dazu am leichtesten herbeiläſst, in κλίνεται 1030, und auſserdem καί 1017, zwar in einem anapäst, der für dochmius eintritt; aber καί hat in allen jahr- hunderten freiere behandlung gestattet. wollte man hiernach allein gehen, so würde der Herakles unter Troerinnen und Elektra herabgerückt werden müssen. aber es sind der verse, welche für solche hiate überhaupt die möglichkeit gewährten, sehr viel weniger als in jenen dramen, so daſs sich von dieser seite nichts gegen einen etwas höheren ansatz sagen läſst, zumal dieselben ursachen auch bei den Hiketiden den entsprechenden erfolg gehabt haben. Sehr stark ins gewicht fällt die anwendung des trochäischen tetra- meters in einer ganzen scene, allerdings einer solchen von höchster leidenschaft mit entsprechender steigerung auch des sprachlichen aus- drucks. die trochäen waren ein lebhaftes tanzmaſs und beherrschten des- halb, wie Aristoteles bezeugt, die älteste tragödie, wie wir sie auch in der epicharmischen posse und der aristophanischen komödie viel verwandt finden. wir lesen noch in den Persern des Aischylos eine trochäische scene; aber der ruhige dialog drängte das tanzmaſs zurück, und so ver- wendet es Aischylos später nur am schlusse des Agamemnon in einer weise, wie sonst die anapäste, und ebenso verfährt Sophokles im schlusse des königs Oedipus. sonst fehlen die trochäen bis auf die scene des Herakles und eine ganz entsprechend lebhafte in den Troerinnen (444—61). dann aber greift die tragödie nach immer stärkeren mitteln. Euripides, der den ton angibt, nimmt neben den künsten des neuen dithyrambus auch die der ältesten mehr musikalischen tragödie wieder auf. so lesen wir trochäische scenen oder scenenteile in Ion Helene beiden Iphigenien Phoe- nissen Orestes Bakchen Andromeda Archelaos, wozu noch Meleagros und Oidipus kommen, welche aus anderen gründen für etwa gleichzeitig mit dem Herakles gelten dürfen 22). Sophokles hat sich etwas mehr zurück- 22) Nur scheinbar streiten mit der regel die bruchstücke 30 und 808, die den älteren dramen Aiolos und Phoinix angehören: ἀλλ᾽ ὁμῶς | οἰκτρός τις αἰὼν πατρίδος ἐκλιπεῑν ὅρους und τἀφανῆ | τεκμηρίοισιν εἰκότως ἁλίσκεται. das satyrspiel Auto- lykos zeigt auch tetrameter: das beweist nichts, da wir den stil und die zeit der satyrspiele nicht kennen. — die deutschen können und wollen sich nur sehr schwer daran gewöhnen, daſs ihre s. g. nachbildungen antiker maſse einen ganz verschie- denen charakter von den griechischen tragen; sie recitiren griechische trochaeen nach dem muster ‘nächtlich am Busento lispeln’ oder ‘preisend mit viel schönen

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/370>, abgerufen am 25.11.2024.