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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
vergessen, dass so alte zeit keine scharfen völkerscheidungen kennt. sie
vermittelten den Hellenen die cultur Asiens und Aegyptens, die selbst
schon nach jahrtausenden zählte. es mag auch einige directe berührung
der Hellenen mit dem semitischen oder dem aegyptischen volke statt-
gefunden haben, wenn deren handelsschiffe sich bis an die griechischen
küsten wagten: der gedanke an irgend welche sesshafte semitische bevöl-
kerung ist mit vollster entschiedenheit abzulehnen. die zeugnisse Homers
von sidonischen händlern gelten doch nur für seine zeit und gehören
gerade sehr jungen partieen des epos an. semitische lehnwörter fehlen in
der alten sprache so gut wie ganz4); die fremdwörter, die es gibt, führen
auf eine andere vermittelung und die übereinstimmungen in den erzeug-
nissen des handwerks geben über die träger der vermittelung so wenig
ein zeugnis ab wie die importware, ganz abgesehen davon dass die zeit-
bestimmung der 'mykenaeischen' funde zur zeit noch ungewiss ist; prae-
historisches pflegt zunächst zu alt angesetzt zu werden.

Die völker-
wanderung.

Also der zustand, in welchem sich Hellas befand, als die geschichte
beginnt, liegt noch in einem dunkel, das sich aber dereinst lichten wird.
die geschichte selbst beginnt mit einer völkerwanderung, deren erfolg
ist, dass das Hellenenland mit ausnahme weniger striche die bewohner
oder wenigstens die herren wechselt, und dafür die inseln, die asiatische
küste, Kreta und Kypros von hellenischen auswanderern besetzt werden.
nicht überall können sie sich halten; in der vereinzelung verlieren sie
auch wol so viel von ihrer natur, dass sie später nicht mehr als Hellenen
erscheinen, im ganzen aber gelingt es ihnen nicht nur die Karer (im
collectiven sinne) zu bemeistern, sondern sie sich zu assimiliren. auch
verlieren sich durch diese auswanderung die alten kleinen stämme und
an ihrer statt ersteht die aeolische und namentlich die ionische nation:
die Iawones 5) sind für den orient identisch mit den Griechen geblieben.

4) bomos eorte othone khiton (Studnizcka beitr. zur altgr. tracht 18) phoinix
und vieles andere, was der wissenschaftliche philosemitismus beansprucht hatte, ist
ihm entrissen, woinos wrodon khrusos sukon (tukon) elaia fordert oder erträgt andere
vermittelung.
5) Der volksname ist gebildet wie Aones Khaones, also kein lehnwort aus dem
orient, wie Müllenhoff (D. A. I 59) wollte. obgleich im mutterlande kein volk nach-
weisbar ist, das den namen getragen hat, kann man nicht umhin, auch in ihm einen
solchen stammnamen zu sehen, der, weil die eigentlichen träger untergegangen waren;
zur bezeichnung des neuen volkes gut schien. der in Athen aus Euboia zuwandernde
lon, Xuthos sohn, zeigt schon darin, dass er niemals in der älteren namensform
begegnet und den accent so trägt, dass die contraction nicht empfunden ist, dass
er erst durch die hesiodische völkertafel entstanden ist, oder vielmehr durch die

Der Herakles der sage.
vergessen, daſs so alte zeit keine scharfen völkerscheidungen kennt. sie
vermittelten den Hellenen die cultur Asiens und Aegyptens, die selbst
schon nach jahrtausenden zählte. es mag auch einige directe berührung
der Hellenen mit dem semitischen oder dem aegyptischen volke statt-
gefunden haben, wenn deren handelsschiffe sich bis an die griechischen
küsten wagten: der gedanke an irgend welche seſshafte semitische bevöl-
kerung ist mit vollster entschiedenheit abzulehnen. die zeugnisse Homers
von sidonischen händlern gelten doch nur für seine zeit und gehören
gerade sehr jungen partieen des epos an. semitische lehnwörter fehlen in
der alten sprache so gut wie ganz4); die fremdwörter, die es gibt, führen
auf eine andere vermittelung und die übereinstimmungen in den erzeug-
nissen des handwerks geben über die träger der vermittelung so wenig
ein zeugnis ab wie die importware, ganz abgesehen davon daſs die zeit-
bestimmung der ‘mykenaeischen’ funde zur zeit noch ungewiſs ist; prae-
historisches pflegt zunächst zu alt angesetzt zu werden.

Die völker-
wanderung.

Also der zustand, in welchem sich Hellas befand, als die geschichte
beginnt, liegt noch in einem dunkel, das sich aber dereinst lichten wird.
die geschichte selbst beginnt mit einer völkerwanderung, deren erfolg
ist, daſs das Hellenenland mit ausnahme weniger striche die bewohner
oder wenigstens die herren wechselt, und dafür die inseln, die asiatische
küste, Kreta und Kypros von hellenischen auswanderern besetzt werden.
nicht überall können sie sich halten; in der vereinzelung verlieren sie
auch wol so viel von ihrer natur, daſs sie später nicht mehr als Hellenen
erscheinen, im ganzen aber gelingt es ihnen nicht nur die Karer (im
collectiven sinne) zu bemeistern, sondern sie sich zu assimiliren. auch
verlieren sich durch diese auswanderung die alten kleinen stämme und
an ihrer statt ersteht die aeolische und namentlich die ionische nation:
die Ἰάϝονες 5) sind für den orient identisch mit den Griechen geblieben.

4) βωμός έορτή ὀϑόνη χιτών (Studnizcka beitr. zur altgr. tracht 18) φοῖνιξ
und vieles andere, was der wissenschaftliche philosemitismus beansprucht hatte, ist
ihm entrissen, ϝοῖνος ϝρόδον χρυσός σῦκον (τῦκον) ἐλαία fordert oder erträgt andere
vermittelung.
5) Der volksname ist gebildet wie Ἄονες Χάονες, also kein lehnwort aus dem
orient, wie Müllenhoff (D. A. I 59) wollte. obgleich im mutterlande kein volk nach-
weisbar ist, das den namen getragen hat, kann man nicht umhin, auch in ihm einen
solchen stammnamen zu sehen, der, weil die eigentlichen träger untergegangen waren;
zur bezeichnung des neuen volkes gut schien. der in Athen aus Euboia zuwandernde
lon, Xuthos sohn, zeigt schon darin, daſs er niemals in der älteren namensform
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[260/0280] Der Herakles der sage. vergessen, daſs so alte zeit keine scharfen völkerscheidungen kennt. sie vermittelten den Hellenen die cultur Asiens und Aegyptens, die selbst schon nach jahrtausenden zählte. es mag auch einige directe berührung der Hellenen mit dem semitischen oder dem aegyptischen volke statt- gefunden haben, wenn deren handelsschiffe sich bis an die griechischen küsten wagten: der gedanke an irgend welche seſshafte semitische bevöl- kerung ist mit vollster entschiedenheit abzulehnen. die zeugnisse Homers von sidonischen händlern gelten doch nur für seine zeit und gehören gerade sehr jungen partieen des epos an. semitische lehnwörter fehlen in der alten sprache so gut wie ganz 4); die fremdwörter, die es gibt, führen auf eine andere vermittelung und die übereinstimmungen in den erzeug- nissen des handwerks geben über die träger der vermittelung so wenig ein zeugnis ab wie die importware, ganz abgesehen davon daſs die zeit- bestimmung der ‘mykenaeischen’ funde zur zeit noch ungewiſs ist; prae- historisches pflegt zunächst zu alt angesetzt zu werden. Also der zustand, in welchem sich Hellas befand, als die geschichte beginnt, liegt noch in einem dunkel, das sich aber dereinst lichten wird. die geschichte selbst beginnt mit einer völkerwanderung, deren erfolg ist, daſs das Hellenenland mit ausnahme weniger striche die bewohner oder wenigstens die herren wechselt, und dafür die inseln, die asiatische küste, Kreta und Kypros von hellenischen auswanderern besetzt werden. nicht überall können sie sich halten; in der vereinzelung verlieren sie auch wol so viel von ihrer natur, daſs sie später nicht mehr als Hellenen erscheinen, im ganzen aber gelingt es ihnen nicht nur die Karer (im collectiven sinne) zu bemeistern, sondern sie sich zu assimiliren. auch verlieren sich durch diese auswanderung die alten kleinen stämme und an ihrer statt ersteht die aeolische und namentlich die ionische nation: die Ἰάϝονες 5) sind für den orient identisch mit den Griechen geblieben. 4) βωμός έορτή ὀϑόνη χιτών (Studnizcka beitr. zur altgr. tracht 18) φοῖνιξ und vieles andere, was der wissenschaftliche philosemitismus beansprucht hatte, ist ihm entrissen, ϝοῖνος ϝρόδον χρυσός σῦκον (τῦκον) ἐλαία fordert oder erträgt andere vermittelung. 5) Der volksname ist gebildet wie Ἄονες Χάονες, also kein lehnwort aus dem orient, wie Müllenhoff (D. A. I 59) wollte. obgleich im mutterlande kein volk nach- weisbar ist, das den namen getragen hat, kann man nicht umhin, auch in ihm einen solchen stammnamen zu sehen, der, weil die eigentlichen träger untergegangen waren; zur bezeichnung des neuen volkes gut schien. der in Athen aus Euboia zuwandernde lon, Xuthos sohn, zeigt schon darin, daſs er niemals in der älteren namensform begegnet und den accent so trägt, daſs die contraction nicht empfunden ist, daſs er erst durch die hesiodische völkertafel entstanden ist, oder vielmehr durch die

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/280>, abgerufen am 30.11.2024.