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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die wahren aufgaben.
wie fadenscheidig wird das bettelgewand, das die flickschneider der con-
jecturalen mache den gedichten anziehen, hier eine glosse, dort ein
germanismus, mit all ihrem flitterkram nur für den fasching gut.

Ein gleiches gilt von der verskunst. was haben wir denn da anders
als lehrgebäude? auch hier heisst es in wahrheit zunächst die erschei-
nungen sammeln und von dem concreten ausgehen, das es zu verstehen
gilt. auch hier das ohr an die allgemein griechische weise gewöhnen,
damit man die besondere des dichters würdigen lerne. auch die metrik
des dramas ist die vollendung einer uralten technik, auch in ihr ist
ererbtes gut, das aus dem besitze der verschiedenen stämme nach Athen
gelangt ist, und dem geschichtlichen entwickelungsgang allein ist das ver-
ständnis seines ergebnisses zu entnehmen. auch hier bedingen einsicht
in das allgemeingiltige und in das individuelle einander gegenseitig.

Und nun weiter zum stoffe und gehalte des gedichtes. der stoff ist
die sage: wiederum dieselbe wechselwirkung wie in sprache und vers-
kunst, nur dass hier das individuelle, dort das allgemeine leichter erfasst
und deshalb meist überwiegend betont wird. hier heisst es Welckers
spuren suchen; sie sind fast unkenntlich geworden: aber sie führen in
ein reich voll unergründlicher herrlichkeit.

Und das einzelne chorlied oder die einzelne scene ist ein glied des
dramas, ein teil des ganzen: das soll verstanden werden, die weise der
composition will am vorliegenden objecte erfasst sein, und dann ab-
geschätzt im vergleiche zu den anderen werken desselben dichters und
seiner zeit- und volksgenossen. hier offenbart sich in der mannigfaltigkeit
die stilfreudige selbstzucht der hellenischen poesie, eröffnen sich fragen,
deren beantwortung rückwärts zu der technik epischer erzählung, vor-
wärts zur stilisirten prosarede weisen.

Und das einzelne drama ist nur ein act eines reichen dichterlebens,
der einzelne dichter nur eine person in dem grossen drama der geschichte
seines volkes. da will jedes an seine stelle gerückt werden, um das rechte
licht zu empfangen und auszustralen. Götz 1772, Natürliche Tochter
1803: wir wissen, was wir mit den jahreszahlen sagen, welche fülle von
kenntnissen sowol aus der geschichte des dichters wie aus der seiner zeit
notwendig sind, um ein wirkliches verständnis der beiden gleich gross-
artigen dramen zu gewinnen. nun, soll das anders sein, wenn wir
Medeia 431, Orestes 408 sagen? und, wenn es gleich ist, müssen wir
nicht versuchen, so unvollkommen es auch bleiben wird, das notwendige
zu leisten?

Weil die philologie so lange jahre hindurch dem drama gegenüber

Die wahren aufgaben.
wie fadenscheidig wird das bettelgewand, das die flickschneider der con-
jecturalen mache den gedichten anziehen, hier eine glosse, dort ein
germanismus, mit all ihrem flitterkram nur für den fasching gut.

Ein gleiches gilt von der verskunst. was haben wir denn da anders
als lehrgebäude? auch hier heiſst es in wahrheit zunächst die erschei-
nungen sammeln und von dem concreten ausgehen, das es zu verstehen
gilt. auch hier das ohr an die allgemein griechische weise gewöhnen,
damit man die besondere des dichters würdigen lerne. auch die metrik
des dramas ist die vollendung einer uralten technik, auch in ihr ist
ererbtes gut, das aus dem besitze der verschiedenen stämme nach Athen
gelangt ist, und dem geschichtlichen entwickelungsgang allein ist das ver-
ständnis seines ergebnisses zu entnehmen. auch hier bedingen einsicht
in das allgemeingiltige und in das individuelle einander gegenseitig.

Und nun weiter zum stoffe und gehalte des gedichtes. der stoff ist
die sage: wiederum dieselbe wechselwirkung wie in sprache und vers-
kunst, nur daſs hier das individuelle, dort das allgemeine leichter erfaſst
und deshalb meist überwiegend betont wird. hier heiſst es Welckers
spuren suchen; sie sind fast unkenntlich geworden: aber sie führen in
ein reich voll unergründlicher herrlichkeit.

Und das einzelne chorlied oder die einzelne scene ist ein glied des
dramas, ein teil des ganzen: das soll verstanden werden, die weise der
composition will am vorliegenden objecte erfaſst sein, und dann ab-
geschätzt im vergleiche zu den anderen werken desselben dichters und
seiner zeit- und volksgenossen. hier offenbart sich in der mannigfaltigkeit
die stilfreudige selbstzucht der hellenischen poesie, eröffnen sich fragen,
deren beantwortung rückwärts zu der technik epischer erzählung, vor-
wärts zur stilisirten prosarede weisen.

Und das einzelne drama ist nur ein act eines reichen dichterlebens,
der einzelne dichter nur eine person in dem groſsen drama der geschichte
seines volkes. da will jedes an seine stelle gerückt werden, um das rechte
licht zu empfangen und auszustralen. Götz 1772, Natürliche Tochter
1803: wir wissen, was wir mit den jahreszahlen sagen, welche fülle von
kenntnissen sowol aus der geschichte des dichters wie aus der seiner zeit
notwendig sind, um ein wirkliches verständnis der beiden gleich groſs-
artigen dramen zu gewinnen. nun, soll das anders sein, wenn wir
Medeia 431, Orestes 408 sagen? und, wenn es gleich ist, müssen wir
nicht versuchen, so unvollkommen es auch bleiben wird, das notwendige
zu leisten?

Weil die philologie so lange jahre hindurch dem drama gegenüber

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[255/0275] Die wahren aufgaben. wie fadenscheidig wird das bettelgewand, das die flickschneider der con- jecturalen mache den gedichten anziehen, hier eine glosse, dort ein germanismus, mit all ihrem flitterkram nur für den fasching gut. Ein gleiches gilt von der verskunst. was haben wir denn da anders als lehrgebäude? auch hier heiſst es in wahrheit zunächst die erschei- nungen sammeln und von dem concreten ausgehen, das es zu verstehen gilt. auch hier das ohr an die allgemein griechische weise gewöhnen, damit man die besondere des dichters würdigen lerne. auch die metrik des dramas ist die vollendung einer uralten technik, auch in ihr ist ererbtes gut, das aus dem besitze der verschiedenen stämme nach Athen gelangt ist, und dem geschichtlichen entwickelungsgang allein ist das ver- ständnis seines ergebnisses zu entnehmen. auch hier bedingen einsicht in das allgemeingiltige und in das individuelle einander gegenseitig. Und nun weiter zum stoffe und gehalte des gedichtes. der stoff ist die sage: wiederum dieselbe wechselwirkung wie in sprache und vers- kunst, nur daſs hier das individuelle, dort das allgemeine leichter erfaſst und deshalb meist überwiegend betont wird. hier heiſst es Welckers spuren suchen; sie sind fast unkenntlich geworden: aber sie führen in ein reich voll unergründlicher herrlichkeit. Und das einzelne chorlied oder die einzelne scene ist ein glied des dramas, ein teil des ganzen: das soll verstanden werden, die weise der composition will am vorliegenden objecte erfaſst sein, und dann ab- geschätzt im vergleiche zu den anderen werken desselben dichters und seiner zeit- und volksgenossen. hier offenbart sich in der mannigfaltigkeit die stilfreudige selbstzucht der hellenischen poesie, eröffnen sich fragen, deren beantwortung rückwärts zu der technik epischer erzählung, vor- wärts zur stilisirten prosarede weisen. Und das einzelne drama ist nur ein act eines reichen dichterlebens, der einzelne dichter nur eine person in dem groſsen drama der geschichte seines volkes. da will jedes an seine stelle gerückt werden, um das rechte licht zu empfangen und auszustralen. Götz 1772, Natürliche Tochter 1803: wir wissen, was wir mit den jahreszahlen sagen, welche fülle von kenntnissen sowol aus der geschichte des dichters wie aus der seiner zeit notwendig sind, um ein wirkliches verständnis der beiden gleich groſs- artigen dramen zu gewinnen. nun, soll das anders sein, wenn wir Medeia 431, Orestes 408 sagen? und, wenn es gleich ist, müssen wir nicht versuchen, so unvollkommen es auch bleiben wird, das notwendige zu leisten? Weil die philologie so lange jahre hindurch dem drama gegenüber

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/275>, abgerufen am 30.11.2024.