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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
welches man ansetzte, war doch nur das römische, das für alle Romanen
gewissermassen die cultur der vorfahren war, und wenn griechisches
hineinspielte, so war es das griechisch des zwiesprachigen weltreichs der
Caesaren. die specifisch griechische cultur, die des Homer und Pindar,
des Euripides Platon und Demosthenes, kam nicht stärker in betracht,
als sie es für das kaiserliche Rom getan hatte. die alten muster liess
man als solche gelten; aber wenn es zur anwendung kam, so transponirte
man unwillkürlich die griechische poesie in die römische eloquentia.
Julius Caesar Scaliger war nur consequenter und vor allem ehrlicher als
die menge; seine poetik gibt nicht nur von der geringschätzung sondern
von dem widerwillen ein treffendes bild, den die echte hellenische kunst
dem Romanen des 16. jahrhunderts einflössen musste. so lästerlich mochte
man nicht reden, aber man handelte ganz in seinem sinne, und es wäre
ein unglück gewesen, wenn man es anders getan hätte: denn nur so
konnte sich die eigenart der französischen poesie entwickeln. mag man
im 17. jahrhundert dann noch so viel von den Griechen reden, mag man
sich am hofe Ludwigs XIV. gerade dessen berühmen, die griechische
tragödie erneut zu haben, mag Racine sich stoffe und wendungen im
Euripides und gar im Aristophanes suchen, mag die aesthetische theorie
in der tat so viel an Aristoteles und Horaz herumklauben, dass sie weder
diese noch die eigene poesie mehr versteht: der moderne und speciell
der Deutsche muss sich nachgerade nicht mehr beirren lassen. es war
recht und gut, dass seiner zeit dargetan ward, wie unvergleichbar Racine
und Euripides sind, und dass Aristoteles mit der theorie und praxis des
französischen theaters nichts zu tun hat 7). es ist gut und recht, dass
man in Boileau den poesielosen pedanten trotz allem wolklang der verse
und noch mehr der perioden nicht verkennt: aber nachgerade sollte man

mistische, den haut gout verschwinden, und was dann von Seneca bleibt, ist eben
griechische popularphilosophie. heut zu tage ist es mode Montaigne zu loben, und
das ist recht, wenn nur über dem loben das lesen nicht vergessen wird, aber Plutarchs
ethische schriften zu verachten: wie kann das recht sein, da doch Montaigne ihnen
so viel verdankt? es wäre wol in der ordnung, dass über keinen von beiden urteilte,
wer nicht beide kennt, wol bemerkt aber den griechischen Plutarch, nicht den des
Amyot.
7) Wir laufen sonst wirklich gefahr nach der anderen seite ebenso lächerlich
zu werden wie diejenigen Franzosen, die ein seltsamer weise auch von verständigen
gelobtes buch repräsentirt. Patin etudes sur les tragiques Grecs2 IV 327 lässt sich
also vernehmen: ce n'etait pas reellement ta tragedie Grecque que decrivait Aristote,
c'etait une autre tragedie, qui devait se montrer bien longtemps apres lui sur la
scene francaise
.

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
welches man ansetzte, war doch nur das römische, das für alle Romanen
gewissermaſsen die cultur der vorfahren war, und wenn griechisches
hineinspielte, so war es das griechisch des zwiesprachigen weltreichs der
Caesaren. die specifisch griechische cultur, die des Homer und Pindar,
des Euripides Platon und Demosthenes, kam nicht stärker in betracht,
als sie es für das kaiserliche Rom getan hatte. die alten muster lieſs
man als solche gelten; aber wenn es zur anwendung kam, so transponirte
man unwillkürlich die griechische poesie in die römische eloquentia.
Julius Caesar Scaliger war nur consequenter und vor allem ehrlicher als
die menge; seine poetik gibt nicht nur von der geringschätzung sondern
von dem widerwillen ein treffendes bild, den die echte hellenische kunst
dem Romanen des 16. jahrhunderts einflöſsen muſste. so lästerlich mochte
man nicht reden, aber man handelte ganz in seinem sinne, und es wäre
ein unglück gewesen, wenn man es anders getan hätte: denn nur so
konnte sich die eigenart der französischen poesie entwickeln. mag man
im 17. jahrhundert dann noch so viel von den Griechen reden, mag man
sich am hofe Ludwigs XIV. gerade dessen berühmen, die griechische
tragödie erneut zu haben, mag Racine sich stoffe und wendungen im
Euripides und gar im Aristophanes suchen, mag die aesthetische theorie
in der tat so viel an Aristoteles und Horaz herumklauben, daſs sie weder
diese noch die eigene poesie mehr versteht: der moderne und speciell
der Deutsche muſs sich nachgerade nicht mehr beirren lassen. es war
recht und gut, daſs seiner zeit dargetan ward, wie unvergleichbar Racine
und Euripides sind, und daſs Aristoteles mit der theorie und praxis des
französischen theaters nichts zu tun hat 7). es ist gut und recht, daſs
man in Boileau den poesielosen pedanten trotz allem wolklang der verse
und noch mehr der perioden nicht verkennt: aber nachgerade sollte man

mistische, den haut gout verschwinden, und was dann von Seneca bleibt, ist eben
griechische popularphilosophie. heut zu tage ist es mode Montaigne zu loben, und
das ist recht, wenn nur über dem loben das lesen nicht vergessen wird, aber Plutarchs
ethische schriften zu verachten: wie kann das recht sein, da doch Montaigne ihnen
so viel verdankt? es wäre wol in der ordnung, daſs über keinen von beiden urteilte,
wer nicht beide kennt, wol bemerkt aber den griechischen Plutarch, nicht den des
Amyot.
7) Wir laufen sonst wirklich gefahr nach der anderen seite ebenso lächerlich
zu werden wie diejenigen Franzosen, die ein seltsamer weise auch von verständigen
gelobtes buch repräsentirt. Patin études sur les tragiques Grecs2 IV 327 läſst sich
also vernehmen: ce n’était pas réellement ta tragédie Grecque que décrivait Aristote,
c’était une autre tragédie, qui devait se montrer bien longtemps après lui sur la
scène française
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[224/0244] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. welches man ansetzte, war doch nur das römische, das für alle Romanen gewissermaſsen die cultur der vorfahren war, und wenn griechisches hineinspielte, so war es das griechisch des zwiesprachigen weltreichs der Caesaren. die specifisch griechische cultur, die des Homer und Pindar, des Euripides Platon und Demosthenes, kam nicht stärker in betracht, als sie es für das kaiserliche Rom getan hatte. die alten muster lieſs man als solche gelten; aber wenn es zur anwendung kam, so transponirte man unwillkürlich die griechische poesie in die römische eloquentia. Julius Caesar Scaliger war nur consequenter und vor allem ehrlicher als die menge; seine poetik gibt nicht nur von der geringschätzung sondern von dem widerwillen ein treffendes bild, den die echte hellenische kunst dem Romanen des 16. jahrhunderts einflöſsen muſste. so lästerlich mochte man nicht reden, aber man handelte ganz in seinem sinne, und es wäre ein unglück gewesen, wenn man es anders getan hätte: denn nur so konnte sich die eigenart der französischen poesie entwickeln. mag man im 17. jahrhundert dann noch so viel von den Griechen reden, mag man sich am hofe Ludwigs XIV. gerade dessen berühmen, die griechische tragödie erneut zu haben, mag Racine sich stoffe und wendungen im Euripides und gar im Aristophanes suchen, mag die aesthetische theorie in der tat so viel an Aristoteles und Horaz herumklauben, daſs sie weder diese noch die eigene poesie mehr versteht: der moderne und speciell der Deutsche muſs sich nachgerade nicht mehr beirren lassen. es war recht und gut, daſs seiner zeit dargetan ward, wie unvergleichbar Racine und Euripides sind, und daſs Aristoteles mit der theorie und praxis des französischen theaters nichts zu tun hat 7). es ist gut und recht, daſs man in Boileau den poesielosen pedanten trotz allem wolklang der verse und noch mehr der perioden nicht verkennt: aber nachgerade sollte man 6) 7) Wir laufen sonst wirklich gefahr nach der anderen seite ebenso lächerlich zu werden wie diejenigen Franzosen, die ein seltsamer weise auch von verständigen gelobtes buch repräsentirt. Patin études sur les tragiques Grecs2 IV 327 läſst sich also vernehmen: ce n’était pas réellement ta tragédie Grecque que décrivait Aristote, c’était une autre tragédie, qui devait se montrer bien longtemps après lui sur la scène française. 6) mistische, den haut gout verschwinden, und was dann von Seneca bleibt, ist eben griechische popularphilosophie. heut zu tage ist es mode Montaigne zu loben, und das ist recht, wenn nur über dem loben das lesen nicht vergessen wird, aber Plutarchs ethische schriften zu verachten: wie kann das recht sein, da doch Montaigne ihnen so viel verdankt? es wäre wol in der ordnung, daſs über keinen von beiden urteilte, wer nicht beide kennt, wol bemerkt aber den griechischen Plutarch, nicht den des Amyot.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/244>, abgerufen am 27.11.2024.