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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Schauspieler.
unbequem waren die chöre. die zahl der tänzer war längst beschränkt,
die komödie hatte sich der chöre fast ganz entschlagen, die rhetorische
tragödie sie wenigstens mit nichtachtung behandelt und entbehrlich ge-
macht. die schauspieler konnten wol mit monodieen etwas anfangen,
obwol auch die zuweilen fortblieben 16), aber die eigentlichen chorge-
sänge waren ihnen nur hinderlich. dazu kam, dass die musik sich ganz
anders entwickelt und mit den künstlichen versmassen längst zu wirt-
schaften verlernt hatte, dass die tanzkunst noch viel mehr die alte be-
deutung eingebüsst hatte, so dass sie noch im 3. jahrhundert unter-
gieng 17), wie die chöre um 100 n. Chr. ganz verschwunden sind 18). als
in Athen um 330 die grosse theaterreform des Lykurgos durchgeführt
ward, forderte der dem alten durchaus huldigende staatslenker freilich,
dass die schauspieler nach einem officiellen textbuche zu spielen hätten,
was für die darstellung einer palaia tragodia auch in der ordnung
war. allein was verschlug diese vereinzelte massregel, und wie wenig
kümmerte man sich in dem demosthenischen Athen um gesetze. vollends
in diesem staatsexemplar ein werk diplomatischer kritik zu sehen und es
gar zu einer art archetypus für unsere handschriften zu machen, ist ein
recht unhistorischer einfall der modernen. Lykurgos brauchte dazu nur
die dramen aus dem buchladen zu kaufen: es ist nichts andres, als wenn
ein hoftheater heut zu tage die unverkürzte aufführung der opern eines
bestimmten componisten oder auch die und die bearbeitung Shakespeares
befiehlt. die allgemeine verwahrlosung gieng deshalb ihren gang ruhig
weiter, und wenn die fortpflanzung der dramen durch die schauspieler statt-
gefunden hat, unsere texte also auf bühnenexemplare zurückgehen, so ist
ihre zuverlässigkeit eine ganz geringe. das freilich war ganz natürlich, dass
auch schauspielerexemplare in die bibliotheken kamen und die antiken
philologen auch solche einsahen, ja es ist sehr glaublich, dass sie sie für

16) So ist zu erklären, dass einzelne gelehrte die monodie Antigones OK 236--43
verwarfen: denn in ihr selbst ist kein anlass zu dem grundlosen verdachte. aber
ein regisseur, der das überlange stück zurichten sollte, würde allerdings hier den
rötel brauchen.
17) Der Babylonier Diogenes setzt das voraus: er hatte offenbar behauptet,
der reiz des dramas ruhe in der musik neben dem worte, denn er wäre seit dem
schwinden des tanzes (den Aristoteles noch mitgerechnet hatte) nicht gesunken.
Philodem (de mus. IV 7 s. 70 Kemke) erweitert das dahin dass auch die musik neben
dem texte bedeutungslos wäre.
18) Dion von Prusa 19, 5; so viel scheint die verdorbene stelle zu ergeben;
die ganze rede ist fragment. Dionys v. Halikarnass kennt die chorlieder noch von
der bühne.
9*

Schauspieler.
unbequem waren die chöre. die zahl der tänzer war längst beschränkt,
die komödie hatte sich der chöre fast ganz entschlagen, die rhetorische
tragödie sie wenigstens mit nichtachtung behandelt und entbehrlich ge-
macht. die schauspieler konnten wol mit monodieen etwas anfangen,
obwol auch die zuweilen fortblieben 16), aber die eigentlichen chorge-
sänge waren ihnen nur hinderlich. dazu kam, daſs die musik sich ganz
anders entwickelt und mit den künstlichen versmaſsen längst zu wirt-
schaften verlernt hatte, daſs die tanzkunst noch viel mehr die alte be-
deutung eingebüſst hatte, so daſs sie noch im 3. jahrhundert unter-
gieng 17), wie die chöre um 100 n. Chr. ganz verschwunden sind 18). als
in Athen um 330 die groſse theaterreform des Lykurgos durchgeführt
ward, forderte der dem alten durchaus huldigende staatslenker freilich,
daſs die schauspieler nach einem officiellen textbuche zu spielen hätten,
was für die darstellung einer παλαιὰ τραγῳδία auch in der ordnung
war. allein was verschlug diese vereinzelte maſsregel, und wie wenig
kümmerte man sich in dem demosthenischen Athen um gesetze. vollends
in diesem staatsexemplar ein werk diplomatischer kritik zu sehen und es
gar zu einer art archetypus für unsere handschriften zu machen, ist ein
recht unhistorischer einfall der modernen. Lykurgos brauchte dazu nur
die dramen aus dem buchladen zu kaufen: es ist nichts andres, als wenn
ein hoftheater heut zu tage die unverkürzte aufführung der opern eines
bestimmten componisten oder auch die und die bearbeitung Shakespeares
befiehlt. die allgemeine verwahrlosung gieng deshalb ihren gang ruhig
weiter, und wenn die fortpflanzung der dramen durch die schauspieler statt-
gefunden hat, unsere texte also auf bühnenexemplare zurückgehen, so ist
ihre zuverlässigkeit eine ganz geringe. das freilich war ganz natürlich, daſs
auch schauspielerexemplare in die bibliotheken kamen und die antiken
philologen auch solche einsahen, ja es ist sehr glaublich, daſs sie sie für

16) So ist zu erklären, daſs einzelne gelehrte die monodie Antigones OK 236—43
verwarfen: denn in ihr selbst ist kein anlaſs zu dem grundlosen verdachte. aber
ein regisseur, der das überlange stück zurichten sollte, würde allerdings hier den
rötel brauchen.
17) Der Babylonier Diogenes setzt das voraus: er hatte offenbar behauptet,
der reiz des dramas ruhe in der musik neben dem worte, denn er wäre seit dem
schwinden des tanzes (den Aristoteles noch mitgerechnet hatte) nicht gesunken.
Philodem (de mus. IV 7 s. 70 Kemke) erweitert das dahin daſs auch die musik neben
dem texte bedeutungslos wäre.
18) Dion von Prusa 19, 5; so viel scheint die verdorbene stelle zu ergeben;
die ganze rede ist fragment. Dionys v. Halikarnaſs kennt die chorlieder noch von
der bühne.
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[131/0151] Schauspieler. unbequem waren die chöre. die zahl der tänzer war längst beschränkt, die komödie hatte sich der chöre fast ganz entschlagen, die rhetorische tragödie sie wenigstens mit nichtachtung behandelt und entbehrlich ge- macht. die schauspieler konnten wol mit monodieen etwas anfangen, obwol auch die zuweilen fortblieben 16), aber die eigentlichen chorge- sänge waren ihnen nur hinderlich. dazu kam, daſs die musik sich ganz anders entwickelt und mit den künstlichen versmaſsen längst zu wirt- schaften verlernt hatte, daſs die tanzkunst noch viel mehr die alte be- deutung eingebüſst hatte, so daſs sie noch im 3. jahrhundert unter- gieng 17), wie die chöre um 100 n. Chr. ganz verschwunden sind 18). als in Athen um 330 die groſse theaterreform des Lykurgos durchgeführt ward, forderte der dem alten durchaus huldigende staatslenker freilich, daſs die schauspieler nach einem officiellen textbuche zu spielen hätten, was für die darstellung einer παλαιὰ τραγῳδία auch in der ordnung war. allein was verschlug diese vereinzelte maſsregel, und wie wenig kümmerte man sich in dem demosthenischen Athen um gesetze. vollends in diesem staatsexemplar ein werk diplomatischer kritik zu sehen und es gar zu einer art archetypus für unsere handschriften zu machen, ist ein recht unhistorischer einfall der modernen. Lykurgos brauchte dazu nur die dramen aus dem buchladen zu kaufen: es ist nichts andres, als wenn ein hoftheater heut zu tage die unverkürzte aufführung der opern eines bestimmten componisten oder auch die und die bearbeitung Shakespeares befiehlt. die allgemeine verwahrlosung gieng deshalb ihren gang ruhig weiter, und wenn die fortpflanzung der dramen durch die schauspieler statt- gefunden hat, unsere texte also auf bühnenexemplare zurückgehen, so ist ihre zuverlässigkeit eine ganz geringe. das freilich war ganz natürlich, daſs auch schauspielerexemplare in die bibliotheken kamen und die antiken philologen auch solche einsahen, ja es ist sehr glaublich, daſs sie sie für 16) So ist zu erklären, daſs einzelne gelehrte die monodie Antigones OK 236—43 verwarfen: denn in ihr selbst ist kein anlaſs zu dem grundlosen verdachte. aber ein regisseur, der das überlange stück zurichten sollte, würde allerdings hier den rötel brauchen. 17) Der Babylonier Diogenes setzt das voraus: er hatte offenbar behauptet, der reiz des dramas ruhe in der musik neben dem worte, denn er wäre seit dem schwinden des tanzes (den Aristoteles noch mitgerechnet hatte) nicht gesunken. Philodem (de mus. IV 7 s. 70 Kemke) erweitert das dahin daſs auch die musik neben dem texte bedeutungslos wäre. 18) Dion von Prusa 19, 5; so viel scheint die verdorbene stelle zu ergeben; die ganze rede ist fragment. Dionys v. Halikarnaſs kennt die chorlieder noch von der bühne. 9*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/151>, abgerufen am 24.11.2024.