stehn: in gewissem sinne sind das 'bücher' oder können dazu werden, und wol mag man die gesetze Solons in dem sinne das älteste attische buch nennen wie die XII tafeln das älteste römische. aber diese bücher bestehen nur in einem exemplare oder doch in wenigen, wie der be- sondere zweck sie erheischt; vertragsurkunden werden z. b. bei jedem paciscirenden teile und zuweilen noch an stätten, die allen gleich heilig sind, aufgestellt; die hypothekensteine stehen auf jedem acker, den die hypothek belastet, u. dgl. aber diese ausfertigungen sind alle originale. abschriften können sich in den händen von privaten befinden, werden es häufig tun, tragen aber alle nur den charakter von upomnemata.
Die gedichte der lyriker waren noch viel mehr als das epos an das lebendige wort gebunden, und gerade die wichtigsten und umfangreichsten, die chorischen, waren zumeist gelegenheitsgedichte. ob sie sich länger erhielten, hieng von dem beifall ab, den sie fanden. nun schrieb sie freilich der dichter nieder, schon weil er sie oft in die ferne verschickte, und der chormeister, der sie einstudirte, brauchte wie der rhapsode ein upomnema. wenn ein heiligtum sich für bestimmte feste ein solches gedicht hatte machen lassen, so gehörte eine abschrift zu den acten. es gab ferner auch gilden von sängern und tänzern, welche nicht ohne einen schatz von gesängen, die sie zur verfügung hatten, denkbar sind. auch in den schulunterricht traten die lieder sehr früh ein -- es wieder- holen sich also dieselben erscheinungen wie bei dem epos. hinzu tritt nur, dass auch die sangweise zu überliefern war. für diese muss es somit irgend eine gedächtnishilfe auch gegeben haben. allein noch viel mehr als die worte musste sich die musik in den fachmännischen kreisen halten, und in wie weit ihre überlieferung eine vollständige war oder nur andeutungen gab, lässt sich nicht sagen. die modernen, welche so reden als ob nicht nur sie partituren von Klonas und Sakadas gelesen hätten, sondern als ob es deren je gegeben hätte, lassen ihre durch keine geschichtliche kritik gezügelte phantasie spielen. im übrigen ist selbst- verständlich, dass man später, als man die gedichte von Pindaros Simonides Sappho buchmässig vertrieb, lediglich das interesse des lesepublicums im auge hatte, das diese gedichte nicht mehr sang: also damals musste die bezeichnung der melodie, so weit sie bestanden hatte, notwendig als ein unnützer ballast fortgeworfen werden.
Ein philosoph oder sonst ein weiser mann des 6. jahrhunderts war auf die poesie und ihren rhapsodischen vertrieb angewiesen gewesen, wenn er auf das publicum wirken wollte. so haben es nachweislich Xenophanes und noch Empedokles gehalten, in keiner weise anders als
Die tragödie ein buch.
stehn: in gewissem sinne sind das ‘bücher’ oder können dazu werden, und wol mag man die gesetze Solons in dem sinne das älteste attische buch nennen wie die XII tafeln das älteste römische. aber diese bücher bestehen nur in einem exemplare oder doch in wenigen, wie der be- sondere zweck sie erheischt; vertragsurkunden werden z. b. bei jedem paciscirenden teile und zuweilen noch an stätten, die allen gleich heilig sind, aufgestellt; die hypothekensteine stehen auf jedem acker, den die hypothek belastet, u. dgl. aber diese ausfertigungen sind alle originale. abschriften können sich in den händen von privaten befinden, werden es häufig tun, tragen aber alle nur den charakter von ὑπομνήματα.
Die gedichte der lyriker waren noch viel mehr als das epos an das lebendige wort gebunden, und gerade die wichtigsten und umfangreichsten, die chorischen, waren zumeist gelegenheitsgedichte. ob sie sich länger erhielten, hieng von dem beifall ab, den sie fanden. nun schrieb sie freilich der dichter nieder, schon weil er sie oft in die ferne verschickte, und der chormeister, der sie einstudirte, brauchte wie der rhapsode ein ὑπόμνημα. wenn ein heiligtum sich für bestimmte feste ein solches gedicht hatte machen lassen, so gehörte eine abschrift zu den acten. es gab ferner auch gilden von sängern und tänzern, welche nicht ohne einen schatz von gesängen, die sie zur verfügung hatten, denkbar sind. auch in den schulunterricht traten die lieder sehr früh ein — es wieder- holen sich also dieselben erscheinungen wie bei dem epos. hinzu tritt nur, daſs auch die sangweise zu überliefern war. für diese muſs es somit irgend eine gedächtnishilfe auch gegeben haben. allein noch viel mehr als die worte muſste sich die musik in den fachmännischen kreisen halten, und in wie weit ihre überlieferung eine vollständige war oder nur andeutungen gab, läſst sich nicht sagen. die modernen, welche so reden als ob nicht nur sie partituren von Klonas und Sakadas gelesen hätten, sondern als ob es deren je gegeben hätte, lassen ihre durch keine geschichtliche kritik gezügelte phantasie spielen. im übrigen ist selbst- verständlich, daſs man später, als man die gedichte von Pindaros Simonides Sappho buchmäſsig vertrieb, lediglich das interesse des lesepublicums im auge hatte, das diese gedichte nicht mehr sang: also damals muſste die bezeichnung der melodie, so weit sie bestanden hatte, notwendig als ein unnützer ballast fortgeworfen werden.
Ein philosoph oder sonst ein weiser mann des 6. jahrhunderts war auf die poesie und ihren rhapsodischen vertrieb angewiesen gewesen, wenn er auf das publicum wirken wollte. so haben es nachweislich Xenophanes und noch Empedokles gehalten, in keiner weise anders als
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Die tragödie ein buch.
stehn: in gewissem sinne sind das ‘bücher’ oder können dazu werden,
und wol mag man die gesetze Solons in dem sinne das älteste attische
buch nennen wie die XII tafeln das älteste römische. aber diese bücher
bestehen nur in einem exemplare oder doch in wenigen, wie der be-
sondere zweck sie erheischt; vertragsurkunden werden z. b. bei jedem
paciscirenden teile und zuweilen noch an stätten, die allen gleich heilig
sind, aufgestellt; die hypothekensteine stehen auf jedem acker, den die
hypothek belastet, u. dgl. aber diese ausfertigungen sind alle originale.
abschriften können sich in den händen von privaten befinden, werden es
häufig tun, tragen aber alle nur den charakter von ὑπομνήματα.
Die gedichte der lyriker waren noch viel mehr als das epos an das
lebendige wort gebunden, und gerade die wichtigsten und umfangreichsten,
die chorischen, waren zumeist gelegenheitsgedichte. ob sie sich länger
erhielten, hieng von dem beifall ab, den sie fanden. nun schrieb sie
freilich der dichter nieder, schon weil er sie oft in die ferne verschickte,
und der chormeister, der sie einstudirte, brauchte wie der rhapsode ein
ὑπόμνημα. wenn ein heiligtum sich für bestimmte feste ein solches
gedicht hatte machen lassen, so gehörte eine abschrift zu den acten.
es gab ferner auch gilden von sängern und tänzern, welche nicht ohne
einen schatz von gesängen, die sie zur verfügung hatten, denkbar sind.
auch in den schulunterricht traten die lieder sehr früh ein — es wieder-
holen sich also dieselben erscheinungen wie bei dem epos. hinzu tritt
nur, daſs auch die sangweise zu überliefern war. für diese muſs es somit
irgend eine gedächtnishilfe auch gegeben haben. allein noch viel mehr
als die worte muſste sich die musik in den fachmännischen kreisen
halten, und in wie weit ihre überlieferung eine vollständige war oder
nur andeutungen gab, läſst sich nicht sagen. die modernen, welche so
reden als ob nicht nur sie partituren von Klonas und Sakadas gelesen
hätten, sondern als ob es deren je gegeben hätte, lassen ihre durch keine
geschichtliche kritik gezügelte phantasie spielen. im übrigen ist selbst-
verständlich, daſs man später, als man die gedichte von Pindaros Simonides
Sappho buchmäſsig vertrieb, lediglich das interesse des lesepublicums
im auge hatte, das diese gedichte nicht mehr sang: also damals muſste
die bezeichnung der melodie, so weit sie bestanden hatte, notwendig als
ein unnützer ballast fortgeworfen werden.
Ein philosoph oder sonst ein weiser mann des 6. jahrhunderts war
auf die poesie und ihren rhapsodischen vertrieb angewiesen gewesen,
wenn er auf das publicum wirken wollte. so haben es nachweislich
Xenophanes und noch Empedokles gehalten, in keiner weise anders als
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/141>, abgerufen am 05.07.2024.
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