Das fünfte jahrhundert macht in allen stücken der archaischen cultur ein ende und legt den grund zu der modernen. auch das buch ist seine schöpfung: und die attische tragödie, ihrem wesen nach von einem buch- drama so entfernt wie keine andere, hat den anstoss zu der erschaffung des buches gegeben. die ersten wirklichen bücher sind die attischen tragödien gewesen.
Die pflege des epos und im anschlusse daran die der elegie und des iambos hatte in den händen eines standes gelegen, der von ihrem vertriebe lebte. die rhapsoden besassen natürlich textbücher, aber sie trugen aus dem gedächtnis vor, und das publicum genoss die poesie aus- schliesslich mit dem ohre. als diese poesie der hauptgegenstand des schulunterrichts ward, brauchte der lehrer (grammatistes und kitha- ristes) ein hilfsbuch für sein gedächtnis; der schüler schrieb sich seine bücher selbst. es lag die möglichkeit vor, dass ein liebhaber sich eine büchersammlung zusammen schrieb oder schreiben liess; die im einzelnen unbeglaubigten bibliotheksgründungen von Peisistratos und Polykrates sind an sich ganz glaublich. ein gelehrter dichter wie Pindaros muss eine stattliche sammlung von schriftwerken gehabt haben, da er sie für sein handwerk brauchte: es sind das aber auch für ihn nur 'hilfsmittel für das gedächtnis', upomnemata. bücher sind sie nicht, so wenig wie die acten in den staatlichen oder privaten archiven, die abschriften von gesetzen, orakelsprüchen, chroniken. es fehlt der act der publication, das lesepublicum, der buchhändlerische vertrieb. lesepublicum und act der publication sind vorhanden für die gesetze und die sonstigen öffent- lichen verordnungen und bekanntmachungen, die auf den märkten, an den strassen, in den heiligtümern, wenn sie dauernde geltung haben, auf erz oder stein, wenn sie vergängliche bedeutung haben, auf holz geschrieben
3. GESCHICHTE DES TRAGIKERTEXTES.
Die tragödie ein buch.
Das fünfte jahrhundert macht in allen stücken der archaischen cultur ein ende und legt den grund zu der modernen. auch das buch ist seine schöpfung: und die attische tragödie, ihrem wesen nach von einem buch- drama so entfernt wie keine andere, hat den anstoſs zu der erschaffung des buches gegeben. die ersten wirklichen bücher sind die attischen tragödien gewesen.
Die pflege des epos und im anschlusse daran die der elegie und des iambos hatte in den händen eines standes gelegen, der von ihrem vertriebe lebte. die rhapsoden besaſsen natürlich textbücher, aber sie trugen aus dem gedächtnis vor, und das publicum genoſs die poesie aus- schlieſslich mit dem ohre. als diese poesie der hauptgegenstand des schulunterrichts ward, brauchte der lehrer (γραμματιστής und κιϑα- ριστής) ein hilfsbuch für sein gedächtnis; der schüler schrieb sich seine bücher selbst. es lag die möglichkeit vor, daſs ein liebhaber sich eine büchersammlung zusammen schrieb oder schreiben lieſs; die im einzelnen unbeglaubigten bibliotheksgründungen von Peisistratos und Polykrates sind an sich ganz glaublich. ein gelehrter dichter wie Pindaros muſs eine stattliche sammlung von schriftwerken gehabt haben, da er sie für sein handwerk brauchte: es sind das aber auch für ihn nur ‘hilfsmittel für das gedächtnis’, ὑπομνήματα. bücher sind sie nicht, so wenig wie die acten in den staatlichen oder privaten archiven, die abschriften von gesetzen, orakelsprüchen, chroniken. es fehlt der act der publication, das lesepublicum, der buchhändlerische vertrieb. lesepublicum und act der publication sind vorhanden für die gesetze und die sonstigen öffent- lichen verordnungen und bekanntmachungen, die auf den märkten, an den straſsen, in den heiligtümern, wenn sie dauernde geltung haben, auf erz oder stein, wenn sie vergängliche bedeutung haben, auf holz geschrieben
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3.
GESCHICHTE DES TRAGIKERTEXTES.
Das fünfte jahrhundert macht in allen stücken der archaischen cultur
ein ende und legt den grund zu der modernen. auch das buch ist seine
schöpfung: und die attische tragödie, ihrem wesen nach von einem buch-
drama so entfernt wie keine andere, hat den anstoſs zu der erschaffung
des buches gegeben. die ersten wirklichen bücher sind die attischen
tragödien gewesen.
Die pflege des epos und im anschlusse daran die der elegie und
des iambos hatte in den händen eines standes gelegen, der von ihrem
vertriebe lebte. die rhapsoden besaſsen natürlich textbücher, aber sie
trugen aus dem gedächtnis vor, und das publicum genoſs die poesie aus-
schlieſslich mit dem ohre. als diese poesie der hauptgegenstand des
schulunterrichts ward, brauchte der lehrer (γραμματιστής und κιϑα-
ριστής) ein hilfsbuch für sein gedächtnis; der schüler schrieb sich seine
bücher selbst. es lag die möglichkeit vor, daſs ein liebhaber sich eine
büchersammlung zusammen schrieb oder schreiben lieſs; die im einzelnen
unbeglaubigten bibliotheksgründungen von Peisistratos und Polykrates
sind an sich ganz glaublich. ein gelehrter dichter wie Pindaros muſs
eine stattliche sammlung von schriftwerken gehabt haben, da er sie für
sein handwerk brauchte: es sind das aber auch für ihn nur ‘hilfsmittel
für das gedächtnis’, ὑπομνήματα. bücher sind sie nicht, so wenig wie
die acten in den staatlichen oder privaten archiven, die abschriften von
gesetzen, orakelsprüchen, chroniken. es fehlt der act der publication,
das lesepublicum, der buchhändlerische vertrieb. lesepublicum und act
der publication sind vorhanden für die gesetze und die sonstigen öffent-
lichen verordnungen und bekanntmachungen, die auf den märkten, an
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. [120]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/140>, abgerufen am 23.11.2024.
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