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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
ausgangspunkt und ziel, wenigstens in den meisten fällen, und aus sich
findet er nur den weg. auch dem publicum ist der ausgang bekannt: über-
raschungen im fünften acte kann die attische tragödie nicht wol geben; die
'spannung' der zuschauer in der rohen weise, wie sie ein dutzendroman
zu erregen sucht, kann sie gar nicht ermöglichen. nun treiben es die
dichter aber nicht selten so, dass sie die handlung einen weg führen, der
der wahrscheinlichkeit nach nicht zu dem unvermeidlichen ziele führen
kann. das muss dann also gewaltsam erreicht werden, denn der ausgang
ist ja eine notorische tatsache, und so rufen sie das schicksal an, das in
wahrheit nur ein ausdruck für den zwang der sage ist, der auf dem
dichter liegt. er hilft sich mit diesem deus ex machina aus der verlegen-
heit, und die einführung des wirklichen maschinengottes ist im grunde
nur das eingeständnis dieser verlegenheit. sein aufkommen ist freilich
ein beweis dafür dass die dichter die harmonie mit der sage verloren
haben, und also ein symptom des baldigen endes für die nicht mehr inner-
lich berechtigte tragödie. aber mit den metaphysischen überzeugungen
oder gar der religion der dichter hat er nichts zu tun, geschweige mit
der ihres volkes 68).

Häufig fragen die leute auch, wie es denn zugehe, dass die Griechen
keine historische tragödie gehabt hätten; denn die tastenden versuche
der ältesten zeit, zu welchen die analogie der chorischen lyrik verführte,
hat man ja rasch und entschieden aufgegeben. die frage selbst zeigt,
wie wenig die grundbegriffe erkannt sind. die Griechen haben ja in
wahrheit nur historische tragödien gehabt: selbst Aristoteles hält ja die
sage für geschichte. was man mit jenem verkehrten worte wirklich
fragt, ist nur das, warum haben die Athener nicht die gegenwart oder
die nur novellistisch verarbeitete jüngste periode, die freilich damals
schon nach jahrhunderten zählte, für die tragödie verarbeitet, also z. b.
warum hat Sophokles nicht einen Periandros oder Kroisos nach Herodot
gedichtet. und auch hier ist die antwort gegeben: die tragödie bearbeitet
eben die heldensage, weil sie die erbin des epos ist. weshalb die helden-

68) Mitgewirkt hat zu dem modernen glauben an die schicksalstragödie die
vorliebe, welche Sophokles für orakel hat, eine manier, die noch viel tiefer in die
ökonomie des dramas eingreift als der maschinengott. der moderne kann in den
orakeln natürlich keine hinreichende motivirung der ereignisse und höchstens rohe
willkür des gottes sehen. Sophokles, auch hierin mit Herodot einer meinung, hat
aber ohne zweifel an orakel geglaubt und, auch wenn er sie erfand, durchaus wahr-
scheinlich zu erfinden gemeint. für den gläubigen sind das tatsachen, die er so gut
wie alle andern mit seiner weltanschaung in einklang bringen muss und wird, wie
auch immer diese sonst beschaffen ist.

Was ist eine attische tragödie?
ausgangspunkt und ziel, wenigstens in den meisten fällen, und aus sich
findet er nur den weg. auch dem publicum ist der ausgang bekannt: über-
raschungen im fünften acte kann die attische tragödie nicht wol geben; die
‘spannung’ der zuschauer in der rohen weise, wie sie ein dutzendroman
zu erregen sucht, kann sie gar nicht ermöglichen. nun treiben es die
dichter aber nicht selten so, daſs sie die handlung einen weg führen, der
der wahrscheinlichkeit nach nicht zu dem unvermeidlichen ziele führen
kann. das muſs dann also gewaltsam erreicht werden, denn der ausgang
ist ja eine notorische tatsache, und so rufen sie das schicksal an, das in
wahrheit nur ein ausdruck für den zwang der sage ist, der auf dem
dichter liegt. er hilft sich mit diesem deus ex machina aus der verlegen-
heit, und die einführung des wirklichen maschinengottes ist im grunde
nur das eingeständnis dieser verlegenheit. sein aufkommen ist freilich
ein beweis dafür daſs die dichter die harmonie mit der sage verloren
haben, und also ein symptom des baldigen endes für die nicht mehr inner-
lich berechtigte tragödie. aber mit den metaphysischen überzeugungen
oder gar der religion der dichter hat er nichts zu tun, geschweige mit
der ihres volkes 68).

Häufig fragen die leute auch, wie es denn zugehe, daſs die Griechen
keine historische tragödie gehabt hätten; denn die tastenden versuche
der ältesten zeit, zu welchen die analogie der chorischen lyrik verführte,
hat man ja rasch und entschieden aufgegeben. die frage selbst zeigt,
wie wenig die grundbegriffe erkannt sind. die Griechen haben ja in
wahrheit nur historische tragödien gehabt: selbst Aristoteles hält ja die
sage für geschichte. was man mit jenem verkehrten worte wirklich
fragt, ist nur das, warum haben die Athener nicht die gegenwart oder
die nur novellistisch verarbeitete jüngste periode, die freilich damals
schon nach jahrhunderten zählte, für die tragödie verarbeitet, also z. b.
warum hat Sophokles nicht einen Periandros oder Kroisos nach Herodot
gedichtet. und auch hier ist die antwort gegeben: die tragödie bearbeitet
eben die heldensage, weil sie die erbin des epos ist. weshalb die helden-

68) Mitgewirkt hat zu dem modernen glauben an die schicksalstragödie die
vorliebe, welche Sophokles für orakel hat, eine manier, die noch viel tiefer in die
ökonomie des dramas eingreift als der maschinengott. der moderne kann in den
orakeln natürlich keine hinreichende motivirung der ereignisse und höchstens rohe
willkür des gottes sehen. Sophokles, auch hierin mit Herodot einer meinung, hat
aber ohne zweifel an orakel geglaubt und, auch wenn er sie erfand, durchaus wahr-
scheinlich zu erfinden gemeint. für den gläubigen sind das tatsachen, die er so gut
wie alle andern mit seiner weltanschaung in einklang bringen muſs und wird, wie
auch immer diese sonst beschaffen ist.
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[118/0138] Was ist eine attische tragödie? ausgangspunkt und ziel, wenigstens in den meisten fällen, und aus sich findet er nur den weg. auch dem publicum ist der ausgang bekannt: über- raschungen im fünften acte kann die attische tragödie nicht wol geben; die ‘spannung’ der zuschauer in der rohen weise, wie sie ein dutzendroman zu erregen sucht, kann sie gar nicht ermöglichen. nun treiben es die dichter aber nicht selten so, daſs sie die handlung einen weg führen, der der wahrscheinlichkeit nach nicht zu dem unvermeidlichen ziele führen kann. das muſs dann also gewaltsam erreicht werden, denn der ausgang ist ja eine notorische tatsache, und so rufen sie das schicksal an, das in wahrheit nur ein ausdruck für den zwang der sage ist, der auf dem dichter liegt. er hilft sich mit diesem deus ex machina aus der verlegen- heit, und die einführung des wirklichen maschinengottes ist im grunde nur das eingeständnis dieser verlegenheit. sein aufkommen ist freilich ein beweis dafür daſs die dichter die harmonie mit der sage verloren haben, und also ein symptom des baldigen endes für die nicht mehr inner- lich berechtigte tragödie. aber mit den metaphysischen überzeugungen oder gar der religion der dichter hat er nichts zu tun, geschweige mit der ihres volkes 68). Häufig fragen die leute auch, wie es denn zugehe, daſs die Griechen keine historische tragödie gehabt hätten; denn die tastenden versuche der ältesten zeit, zu welchen die analogie der chorischen lyrik verführte, hat man ja rasch und entschieden aufgegeben. die frage selbst zeigt, wie wenig die grundbegriffe erkannt sind. die Griechen haben ja in wahrheit nur historische tragödien gehabt: selbst Aristoteles hält ja die sage für geschichte. was man mit jenem verkehrten worte wirklich fragt, ist nur das, warum haben die Athener nicht die gegenwart oder die nur novellistisch verarbeitete jüngste periode, die freilich damals schon nach jahrhunderten zählte, für die tragödie verarbeitet, also z. b. warum hat Sophokles nicht einen Periandros oder Kroisos nach Herodot gedichtet. und auch hier ist die antwort gegeben: die tragödie bearbeitet eben die heldensage, weil sie die erbin des epos ist. weshalb die helden- 68) Mitgewirkt hat zu dem modernen glauben an die schicksalstragödie die vorliebe, welche Sophokles für orakel hat, eine manier, die noch viel tiefer in die ökonomie des dramas eingreift als der maschinengott. der moderne kann in den orakeln natürlich keine hinreichende motivirung der ereignisse und höchstens rohe willkür des gottes sehen. Sophokles, auch hierin mit Herodot einer meinung, hat aber ohne zweifel an orakel geglaubt und, auch wenn er sie erfand, durchaus wahr- scheinlich zu erfinden gemeint. für den gläubigen sind das tatsachen, die er so gut wie alle andern mit seiner weltanschaung in einklang bringen muſs und wird, wie auch immer diese sonst beschaffen ist.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/138>, abgerufen am 24.11.2024.