Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Moderne vorurteile. schufen, hatten sie auch allein die möglichkeit, einen charakter sich ent-wickeln zu lassen. nicht bloss die Klytaimnestra des Aischylos tut es, da sie in drei dramen hinter einander auftritt: Medeia sehen wir zur ver- brecherin werden, Phaidra, Hekabe, Kreusa sind vollkommene gemälde psychischer krankheiten. dass Bellerophontes die tragödie der menschen- feindschaft war, können wir nur noch ahnen: Herakles aber zeigt uns die krankheit und die heilung zugleich. das war nicht mehr möglich, als die tragischen personen wirklich zu typen geworden waren: Seneca lehrt es genugsam, und hat doch auch eine Medea und Phaedra gedichtet. das ward aber schon viel früher weder verstanden noch geschätzt. der fluch des menandrischen lustspiels ist es, dass es kharakteres gibt wie Theophrastos sie gezeichnet hatte -- ob sie anonym blieben oder Philon und Chremes hiessen, macht wahrlich keinen unterschied. und schon bei Aristoteles sehen wir, dass er so gröblich sich versehen kann, die aulische Iphigeneia zu tadeln, weil sie nicht entweder lediglich als schlachtopfer weint, oder als heldenjungfrau mutvolle reden hält. es war nur eine con- sequenz davon, dass seine schüler der Medeia die regungen der liebe zu ihren kindern verübelten 67). In diesen dingen sehen wir die freiheit der dichter gegenüber der 67) Hypothes. und schol. 922. 8*
Moderne vorurteile. schufen, hatten sie auch allein die möglichkeit, einen charakter sich ent-wickeln zu lassen. nicht bloſs die Klytaimnestra des Aischylos tut es, da sie in drei dramen hinter einander auftritt: Medeia sehen wir zur ver- brecherin werden, Phaidra, Hekabe, Kreusa sind vollkommene gemälde psychischer krankheiten. daſs Bellerophontes die tragödie der menschen- feindschaft war, können wir nur noch ahnen: Herakles aber zeigt uns die krankheit und die heilung zugleich. das war nicht mehr möglich, als die tragischen personen wirklich zu typen geworden waren: Seneca lehrt es genugsam, und hat doch auch eine Medea und Phaedra gedichtet. das ward aber schon viel früher weder verstanden noch geschätzt. der fluch des menandrischen lustspiels ist es, daſs es χαρακτῆρες gibt wie Theophrastos sie gezeichnet hatte — ob sie anonym blieben oder Philon und Chremes hieſsen, macht wahrlich keinen unterschied. und schon bei Aristoteles sehen wir, daſs er so gröblich sich versehen kann, die aulische Iphigeneia zu tadeln, weil sie nicht entweder lediglich als schlachtopfer weint, oder als heldenjungfrau mutvolle reden hält. es war nur eine con- sequenz davon, daſs seine schüler der Medeia die regungen der liebe zu ihren kindern verübelten 67). In diesen dingen sehen wir die freiheit der dichter gegenüber der 67) Hypothes. und schol. 922. 8*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0135" n="115"/><fw place="top" type="header">Moderne vorurteile.</fw><lb/> schufen, hatten sie auch allein die möglichkeit, einen charakter sich ent-<lb/> wickeln zu lassen. nicht bloſs die Klytaimnestra des Aischylos tut es, da<lb/> sie in drei dramen hinter einander auftritt: Medeia sehen wir zur ver-<lb/> brecherin werden, Phaidra, Hekabe, Kreusa sind vollkommene gemälde<lb/> psychischer krankheiten. daſs Bellerophontes die tragödie der menschen-<lb/> feindschaft war, können wir nur noch ahnen: Herakles aber zeigt uns<lb/> die krankheit und die heilung zugleich. das war nicht mehr möglich,<lb/> als die tragischen personen wirklich zu typen geworden waren: Seneca<lb/> lehrt es genugsam, und hat doch auch eine Medea und Phaedra gedichtet.<lb/> das ward aber schon viel früher weder verstanden noch geschätzt. der<lb/> fluch des menandrischen lustspiels ist es, daſs es χαρακτῆρες gibt wie<lb/> Theophrastos sie gezeichnet hatte — ob sie anonym blieben oder Philon<lb/> und Chremes hieſsen, macht wahrlich keinen unterschied. und schon bei<lb/> Aristoteles sehen wir, daſs er so gröblich sich versehen kann, die aulische<lb/> Iphigeneia zu tadeln, weil sie nicht entweder lediglich als schlachtopfer<lb/> weint, oder als heldenjungfrau mutvolle reden hält. es war nur eine con-<lb/> sequenz davon, daſs seine schüler der Medeia die regungen der liebe zu<lb/> ihren kindern verübelten <note place="foot" n="67)">Hypothes. und schol. 922.</note>.</p><lb/> <p>In diesen dingen sehen wir die freiheit der dichter gegenüber der<lb/> sage, die unvergessen bleiben muſs, zumal wenn man der sage endlich<lb/> das ihre gibt. aus den charakteren wird die handlung motivirt: die hand-<lb/> lung aber war gegeben, also auch der ausgang. da wird die moral for-<lb/> dern, daſs der dichter so motivire, daſs die poetische gerechtigkeit be-<lb/> friedigt wird. und wirklich hört man oft, daſs die antike tragödie, wenn<lb/> sie auch sonst ein überwundener standpunkt wäre, in groſsartiger naivetät<lb/> schuld und strafe in ihrer unerbittlichen verkettung darstellte. Schiller<lb/> hielt seine Braut von Messina doch wol für eine tragödie in antikem<lb/> sinne, und in ihr soll ja die schuld, der übel gröſstes, böses fortzeugend bis<lb/> zum allgemeinen untergange dargestellt sein. derselbe Schiller hat auch<lb/> mindestens mit verschuldet, daſs die Athener in den geruch des fatalismus<lb/> geraten sind. in der ersten classe der mädchenschule, in den aesthe-<lb/> tisch-kritischen ergüssen der monatsschriften, also dort wo man im<lb/> vollbesitze der allgemeinen bildung ist, auch in poetiken, die sich an<lb/> diese kreise wenden, ist es eine ziemlich ausgemachte sache, daſs Sophokles<lb/> und Müllner schicksalstragödien verfaſst haben. und ganz besonders weiden<lb/> sich die christlichen von heute, schwarze wie graue, daran, daſs die blinden<lb/> heiden ein recht blindes schicksal geglaubt hätten, das den menschen sünde<lb/> <fw place="bottom" type="sig">8*</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [115/0135]
Moderne vorurteile.
schufen, hatten sie auch allein die möglichkeit, einen charakter sich ent-
wickeln zu lassen. nicht bloſs die Klytaimnestra des Aischylos tut es, da
sie in drei dramen hinter einander auftritt: Medeia sehen wir zur ver-
brecherin werden, Phaidra, Hekabe, Kreusa sind vollkommene gemälde
psychischer krankheiten. daſs Bellerophontes die tragödie der menschen-
feindschaft war, können wir nur noch ahnen: Herakles aber zeigt uns
die krankheit und die heilung zugleich. das war nicht mehr möglich,
als die tragischen personen wirklich zu typen geworden waren: Seneca
lehrt es genugsam, und hat doch auch eine Medea und Phaedra gedichtet.
das ward aber schon viel früher weder verstanden noch geschätzt. der
fluch des menandrischen lustspiels ist es, daſs es χαρακτῆρες gibt wie
Theophrastos sie gezeichnet hatte — ob sie anonym blieben oder Philon
und Chremes hieſsen, macht wahrlich keinen unterschied. und schon bei
Aristoteles sehen wir, daſs er so gröblich sich versehen kann, die aulische
Iphigeneia zu tadeln, weil sie nicht entweder lediglich als schlachtopfer
weint, oder als heldenjungfrau mutvolle reden hält. es war nur eine con-
sequenz davon, daſs seine schüler der Medeia die regungen der liebe zu
ihren kindern verübelten 67).
In diesen dingen sehen wir die freiheit der dichter gegenüber der
sage, die unvergessen bleiben muſs, zumal wenn man der sage endlich
das ihre gibt. aus den charakteren wird die handlung motivirt: die hand-
lung aber war gegeben, also auch der ausgang. da wird die moral for-
dern, daſs der dichter so motivire, daſs die poetische gerechtigkeit be-
friedigt wird. und wirklich hört man oft, daſs die antike tragödie, wenn
sie auch sonst ein überwundener standpunkt wäre, in groſsartiger naivetät
schuld und strafe in ihrer unerbittlichen verkettung darstellte. Schiller
hielt seine Braut von Messina doch wol für eine tragödie in antikem
sinne, und in ihr soll ja die schuld, der übel gröſstes, böses fortzeugend bis
zum allgemeinen untergange dargestellt sein. derselbe Schiller hat auch
mindestens mit verschuldet, daſs die Athener in den geruch des fatalismus
geraten sind. in der ersten classe der mädchenschule, in den aesthe-
tisch-kritischen ergüssen der monatsschriften, also dort wo man im
vollbesitze der allgemeinen bildung ist, auch in poetiken, die sich an
diese kreise wenden, ist es eine ziemlich ausgemachte sache, daſs Sophokles
und Müllner schicksalstragödien verfaſst haben. und ganz besonders weiden
sich die christlichen von heute, schwarze wie graue, daran, daſs die blinden
heiden ein recht blindes schicksal geglaubt hätten, das den menschen sünde
67) Hypothes. und schol. 922.
8*
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |