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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
ganzen definition ist 64). Aristoteles fährt fort, dronton kai me di
apaggelias. insofern hierdurch nur der unterschied vom epos bezeichnet
werden soll, ist es ohne weiteres zutreffend; ich habe dem durch das
wort 'darstellung' genüge zu leisten gesucht. aber Aristoteles selbst hat
ohne zweifel mehr darin gesucht und von der tragödie gefordert, dass sie
ihre handlung im wesentlichen vor augen führen, darstellen und nicht
erzählen soll. eben so wenig werden wir zögern, die forderung als be-
rechtigt anzuerkennen; unser gefühl werden auch die attischen dramen
besonders ansprechen, welche ihr genügen, also z. b. Philoktet und Oedi-
pus, Medeia und Ion. aber für die attische tragödie ist, wie wir gesehen
haben, das dramatische accessorisch, und vollends die mimesis praxeos
-- dronton kai me di apaggelias sehen wir zwar von Richard III
Othello Götz erfüllt: allein, wer auf das dramatische das höchste gewicht
legt, dem haben erfahrungsgemäss die nachahmungen der antike und
diese selbst nicht genüge geleistet. nicht bloss die Perser, auch die Sieben
geben nicht die handlung, oder doch nur im reflexe, halb episch, halb
lyrisch. Aischylos Europe e Kares 65) können wir uns nach dem pro-
loge und der zu grunde liegenden homerischen episode ganz wol vor-
stellen, die sorge der mutter um den fernen sohn, den barbarenchor,
dem die fremdartige wilde klage geziemt, einen botenbericht, der das P
nacherzählt, Schlaf und Tod mit der leiche Sarpedons, die errichtung des
schon von Homer erwähnten grabmals: ein herzzerreissendes bild des
mutterschmerzes und der früh gebrochenen menschenblüte, versöhnt
durch den ewigen ruhm der mannesehre, die im grabe des Aresgefällten
das leben hat, ein abbild der empfindungen, welche die Erechtheiden haben
mochten, als sie den leichenstein CIA I 433 errichteten: das gibt eine echte
attische tragödie, aber ob es ein wirkliches drama gibt, ist mir selbst
zweifelhaft. der unterschied zwischen dem abstract von uns geforderten
und dem concret in Athen erkannten und erstrebten ist in diesem punkte
besonders augenfällig. wir erleben ja aber auch, dass das dramatische

64) Wenn man die einheit der handlung so misverstanden hat, dass nur eine
verwickelung erlaubt sein sollte, und demgemäss die Hekabe und den Herakles des
Euripides, Lear und Kaufmann von Venedig getadelt hat, so ist das geschehen, weil
man den Aristoteles nicht im urtext zu grunde legte. selbst der Götz genügt der
wirklich aristotelischen forderung, mag auch ein gewisses epeisodiodes als vor-
wurf mit recht haften bleiben. aber Heinrich IV. oder Faust genügen nicht.
65) Karer bilden den chor, weil sie für die totenklagen geeignet sind. dass
Sarpedon ihr fürst und nur nebenher der der Lykier ist, zeigt, dass die ausbildung
der sage milesisch ist, wohin die verbindung des Sarpedon mit Kreta auch weist:
denn das hinterland von Milet ist karisch.

Was ist eine attische tragödie?
ganzen definition ist 64). Aristoteles fährt fort, δρώντων καὶ μὴ δι̕
ἀπαγγελίας. insofern hierdurch nur der unterschied vom epos bezeichnet
werden soll, ist es ohne weiteres zutreffend; ich habe dem durch das
wort ‘darstellung’ genüge zu leisten gesucht. aber Aristoteles selbst hat
ohne zweifel mehr darin gesucht und von der tragödie gefordert, daſs sie
ihre handlung im wesentlichen vor augen führen, darstellen und nicht
erzählen soll. eben so wenig werden wir zögern, die forderung als be-
rechtigt anzuerkennen; unser gefühl werden auch die attischen dramen
besonders ansprechen, welche ihr genügen, also z. b. Philoktet und Oedi-
pus, Medeia und Ion. aber für die attische tragödie ist, wie wir gesehen
haben, das dramatische accessorisch, und vollends die μίμησις πράξεως
— δρώντων καὶ μὴ δι̕ ἀπαγγελίας sehen wir zwar von Richard III
Othello Götz erfüllt: allein, wer auf das dramatische das höchste gewicht
legt, dem haben erfahrungsgemäſs die nachahmungen der antike und
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lyrisch. Aischylos Εὐρώπη ἢ Κᾶρες 65) können wir uns nach dem pro-
loge und der zu grunde liegenden homerischen episode ganz wol vor-
stellen, die sorge der mutter um den fernen sohn, den barbarenchor,
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nacherzählt, Schlaf und Tod mit der leiche Sarpedons, die errichtung des
schon von Homer erwähnten grabmals: ein herzzerreiſsendes bild des
mutterschmerzes und der früh gebrochenen menschenblüte, versöhnt
durch den ewigen ruhm der mannesehre, die im grabe des Aresgefällten
das leben hat, ein abbild der empfindungen, welche die Erechtheiden haben
mochten, als sie den leichenstein CIA I 433 errichteten: das gibt eine echte
attische tragödie, aber ob es ein wirkliches drama gibt, ist mir selbst
zweifelhaft. der unterschied zwischen dem abstract von uns geforderten
und dem concret in Athen erkannten und erstrebten ist in diesem punkte
besonders augenfällig. wir erleben ja aber auch, daſs das dramatische

64) Wenn man die einheit der handlung so misverstanden hat, daſs nur eine
verwickelung erlaubt sein sollte, und demgemäſs die Hekabe und den Herakles des
Euripides, Lear und Kaufmann von Venedig getadelt hat, so ist das geschehen, weil
man den Aristoteles nicht im urtext zu grunde legte. selbst der Götz genügt der
wirklich aristotelischen forderung, mag auch ein gewisses ἐπεισοδιῶδες als vor-
wurf mit recht haften bleiben. aber Heinrich IV. oder Faust genügen nicht.
65) Karer bilden den chor, weil sie für die totenklagen geeignet sind. daſs
Sarpedon ihr fürst und nur nebenher der der Lykier ist, zeigt, daſs die ausbildung
der sage milesisch ist, wohin die verbindung des Sarpedon mit Kreta auch weist:
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/128>, abgerufen am 25.11.2024.