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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
menschen träger der handlung sind, macht keinen wesensunterschied.
fabel und novelle und märchen, wie wir die verkümmerten überreste
nennen, sind reiser an demselben stamme. und es ist nur ein quanti-
tativer unterschied, wenn sich eine solche conception der volksmoral bis
in die hohen himmel hebt, der satz 'seid dankbar' von Ixion auf seinem
feurigen rade verkündet wird, wenn Vorbedacht und Nachbedacht zwei
Titanen werden, und der hehre glaube, dass menschenwürde nicht der
götterhöhe weicht, sich in der gestalt des Herakles verkörpert. in so weit
die schöpferische tätigkeit der volksphantasie sich also mit der production
des einzelnen dichters deckt, darf sie wol bei denen auf ein verständnis
rechnen, welche dieser nachzudenken vermögen. an der Heraklessage
wollen wir unten selbst den versuch machen.

Schwierig dagegen ist es, das verhältnis der sage zu den göttern
und zu der religion zu erfassen, zumal das unerträgliche wort mythologie
den ganzen luxe de croyance umfasst, den sich ein volk mit göttern helden
ungeheuern und ihrem geboren werden kämpfen und sterben erlaubt,
ein wort, anwendbar eigentlich nur für solche, die froh sind, sich nicht
mehr in die unkosten eines solchen luxus zu stürzen. wenn die paradig-
matische sage götter oder dämonen einführt, so tut sie das nicht anders,
als wenn sie nach menschen oder tieren greift. sie verwendet alles was sie
hat, aber es muss eben schon vorhanden sein. dabei kann sie ja ohne be-
schränkung nach der analogie selbst schöpferisch auftreten, und nament-
lich personificationen hat vornehmlich sie erst zu göttern gemacht, auf
diesem umwege greift sie stark in die ausbildung der götterlehre ein, denn
die geschöpfe der phantasie sind sehr wol dazu fähig, religiöse potenzen zu
werden. so ist Eros ganz und gar ein geschöpf der dichtung. aber es
musste eben doch schon vorher die existenz von göttern und dämonen fest-
stehen, und die götter, welche wirklich im glauben und im cultus leben,
werden auf diesem wege nimmermehr erklärt. ja, wenn der rationalismus
recht hätte, und auch die religion nur etwas wäre, das sich zuerst einmal
einer ausgedacht hat, oder wenn der euhemerismus recht hätte, und die
götter einmal fleisch und bein gehabt hätten, oder wenn die natursymbolik
recht hätte, und die religion nichts wäre als in metaphern umgesetzte
meteoroleschie, dann möchten die götter in der sage aufgehen und dem-
nach die taten derselben so alt oder älter sein als die personen. aber
das ist ja alles nichts oder doch nur etwas äusserliches. die gottheit hat
keine andere wohnung als das menschliche herz, und selbst wenn sie
sich im elemente offenbart, das sie noch am reinsten reflectirt, so ist
das so wenig ihre wahre gestalt, wie wenn der Erdgeist im feuer erscheint

Was ist eine attische tragödie?
menschen träger der handlung sind, macht keinen wesensunterschied.
fabel und novelle und märchen, wie wir die verkümmerten überreste
nennen, sind reiser an demselben stamme. und es ist nur ein quanti-
tativer unterschied, wenn sich eine solche conception der volksmoral bis
in die hohen himmel hebt, der satz ‘seid dankbar’ von Ixion auf seinem
feurigen rade verkündet wird, wenn Vorbedacht und Nachbedacht zwei
Titanen werden, und der hehre glaube, daſs menschenwürde nicht der
götterhöhe weicht, sich in der gestalt des Herakles verkörpert. in so weit
die schöpferische tätigkeit der volksphantasie sich also mit der production
des einzelnen dichters deckt, darf sie wol bei denen auf ein verständnis
rechnen, welche dieser nachzudenken vermögen. an der Heraklessage
wollen wir unten selbst den versuch machen.

Schwierig dagegen ist es, das verhältnis der sage zu den göttern
und zu der religion zu erfassen, zumal das unerträgliche wort mythologie
den ganzen luxe de croyance umfaſst, den sich ein volk mit göttern helden
ungeheuern und ihrem geboren werden kämpfen und sterben erlaubt,
ein wort, anwendbar eigentlich nur für solche, die froh sind, sich nicht
mehr in die unkosten eines solchen luxus zu stürzen. wenn die paradig-
matische sage götter oder dämonen einführt, so tut sie das nicht anders,
als wenn sie nach menschen oder tieren greift. sie verwendet alles was sie
hat, aber es muſs eben schon vorhanden sein. dabei kann sie ja ohne be-
schränkung nach der analogie selbst schöpferisch auftreten, und nament-
lich personificationen hat vornehmlich sie erst zu göttern gemacht, auf
diesem umwege greift sie stark in die ausbildung der götterlehre ein, denn
die geschöpfe der phantasie sind sehr wol dazu fähig, religiöse potenzen zu
werden. so ist Eros ganz und gar ein geschöpf der dichtung. aber es
muſste eben doch schon vorher die existenz von göttern und dämonen fest-
stehen, und die götter, welche wirklich im glauben und im cultus leben,
werden auf diesem wege nimmermehr erklärt. ja, wenn der rationalismus
recht hätte, und auch die religion nur etwas wäre, das sich zuerst einmal
einer ausgedacht hat, oder wenn der euhemerismus recht hätte, und die
götter einmal fleisch und bein gehabt hätten, oder wenn die natursymbolik
recht hätte, und die religion nichts wäre als in metaphern umgesetzte
meteoroleschie, dann möchten die götter in der sage aufgehen und dem-
nach die taten derselben so alt oder älter sein als die personen. aber
das ist ja alles nichts oder doch nur etwas äuſserliches. die gottheit hat
keine andere wohnung als das menschliche herz, und selbst wenn sie
sich im elemente offenbart, das sie noch am reinsten reflectirt, so ist
das so wenig ihre wahre gestalt, wie wenn der Erdgeist im feuer erscheint

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[98/0118] Was ist eine attische tragödie? menschen träger der handlung sind, macht keinen wesensunterschied. fabel und novelle und märchen, wie wir die verkümmerten überreste nennen, sind reiser an demselben stamme. und es ist nur ein quanti- tativer unterschied, wenn sich eine solche conception der volksmoral bis in die hohen himmel hebt, der satz ‘seid dankbar’ von Ixion auf seinem feurigen rade verkündet wird, wenn Vorbedacht und Nachbedacht zwei Titanen werden, und der hehre glaube, daſs menschenwürde nicht der götterhöhe weicht, sich in der gestalt des Herakles verkörpert. in so weit die schöpferische tätigkeit der volksphantasie sich also mit der production des einzelnen dichters deckt, darf sie wol bei denen auf ein verständnis rechnen, welche dieser nachzudenken vermögen. an der Heraklessage wollen wir unten selbst den versuch machen. Schwierig dagegen ist es, das verhältnis der sage zu den göttern und zu der religion zu erfassen, zumal das unerträgliche wort mythologie den ganzen luxe de croyance umfaſst, den sich ein volk mit göttern helden ungeheuern und ihrem geboren werden kämpfen und sterben erlaubt, ein wort, anwendbar eigentlich nur für solche, die froh sind, sich nicht mehr in die unkosten eines solchen luxus zu stürzen. wenn die paradig- matische sage götter oder dämonen einführt, so tut sie das nicht anders, als wenn sie nach menschen oder tieren greift. sie verwendet alles was sie hat, aber es muſs eben schon vorhanden sein. dabei kann sie ja ohne be- schränkung nach der analogie selbst schöpferisch auftreten, und nament- lich personificationen hat vornehmlich sie erst zu göttern gemacht, auf diesem umwege greift sie stark in die ausbildung der götterlehre ein, denn die geschöpfe der phantasie sind sehr wol dazu fähig, religiöse potenzen zu werden. so ist Eros ganz und gar ein geschöpf der dichtung. aber es muſste eben doch schon vorher die existenz von göttern und dämonen fest- stehen, und die götter, welche wirklich im glauben und im cultus leben, werden auf diesem wege nimmermehr erklärt. ja, wenn der rationalismus recht hätte, und auch die religion nur etwas wäre, das sich zuerst einmal einer ausgedacht hat, oder wenn der euhemerismus recht hätte, und die götter einmal fleisch und bein gehabt hätten, oder wenn die natursymbolik recht hätte, und die religion nichts wäre als in metaphern umgesetzte meteoroleschie, dann möchten die götter in der sage aufgehen und dem- nach die taten derselben so alt oder älter sein als die personen. aber das ist ja alles nichts oder doch nur etwas äuſserliches. die gottheit hat keine andere wohnung als das menschliche herz, und selbst wenn sie sich im elemente offenbart, das sie noch am reinsten reflectirt, so ist das so wenig ihre wahre gestalt, wie wenn der Erdgeist im feuer erscheint

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/118>, abgerufen am 25.11.2024.