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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
haft, dass wieder nur erzählung und gesänge, durchaus keine handlung
darin sein konnte. das waren also zwar tragödien, denn der chor, seiner
art nach von dem dithyrambischen kaum verschieden, und der sprecher
der iamben waren vorhanden, beide neben einander, durch das costum
verbunden: aber ein drama würden wir unmöglich ein solches gedicht
nennen, es würde höchstens ein oratorium sein, mit 50 stimmen und
tanz, aber ohne soli. an dem Falle Milets ist die von dem satyrspiel grell
abstechende stimmung uns auffällig, doch ist zu beherzigen, dass die
Athener an dem in unserem sinne tragischen selbst anstoss genommen
haben. und Phrynichos selbst gibt auch für die satyrhafte behandlung
eines an sich ernsten stoffes einen beleg. von dem inhalt seiner Alkestis
wissen wir nämlich dreierlei, erstens dass Apollon bei der hochzeit seines
schützlings Admetos, dem er zur frau verholfen hatte, die Moiren betrunken
machte, damit sie ihm das leben des Admetos gegen ein anderes schenkten.
zweitens kam der Tod vor, der tölpelhafte bediente des Hades, den die
märchen aufgebracht hatten, und schnitt der Alkestis eine locke ab, sie
dem tode zu weihen 58). drittens erschien der fressgierige Dorerheld
Herakles, rang mit dem Tode und jagte ihm die Alkestis ab. wie stark
die burlesken züge waren, ist jetzt nur aus der verfeinernden und mil-
dernden euripideischen nachbildung zu entnehmen, aber für ein aufmerk-
sames auge sehr deutlich. es ist gar nichts dagegen zu sagen, wenn man die
satyrn selber noch als chor zulassen will. handlung ist genug, und recht
lebhafte, allein sie liegt in der geschichte, die der dichter schwerlich selbst
gestaltet hat, und ob der zuschauer handelnde personen sah, ist fraglich,
da sich ziemlich alles gut erzählen liess; von der schilderung des ring-
kampfes ist ein bruchstück erhalten.

Aischylos.

Es war also nun so ziemlich alles zusammen, was zu einem attischen
drama gehört; und doch könnte jemand vom modernen standpunkte sagen,
dass noch das specifisch dramatische fehle. es gab längst die tragodia:
und doch muss man sagen, dass noch das specifisch tragische fehle.
und in der kunst, in welcher nur das vollendete wirklich lebensfähig ist,
gilt es c'est le dernier pas qui coaute. bislang konnten wir auch noch
jeden schritt als etwas nahe liegendes ansehen, das man sich allenfalls
selbst zutrauen mag: hier war ein genius von nöten, der zwar nicht nach
verstandesmässiger überlegung eines tages beschliesst 'nun wollen wir das
drama schaffen', aber über den der göttliche geist kommt, der ihn schaffen

58) Schol. Verg. Aen. VI 694. offenbar stammt das citat des verschollenen
dichters aus der hypothesis der euripideischen Alkestis; jetzt steht zu v. 1 nur noch
die demodes istoria, d. h. die hesiodische.

Was ist eine attische tragödie?
haft, daſs wieder nur erzählung und gesänge, durchaus keine handlung
darin sein konnte. das waren also zwar tragödien, denn der chor, seiner
art nach von dem dithyrambischen kaum verschieden, und der sprecher
der iamben waren vorhanden, beide neben einander, durch das costum
verbunden: aber ein drama würden wir unmöglich ein solches gedicht
nennen, es würde höchstens ein oratorium sein, mit 50 stimmen und
tanz, aber ohne soli. an dem Falle Milets ist die von dem satyrspiel grell
abstechende stimmung uns auffällig, doch ist zu beherzigen, daſs die
Athener an dem in unserem sinne tragischen selbst anstoſs genommen
haben. und Phrynichos selbst gibt auch für die satyrhafte behandlung
eines an sich ernsten stoffes einen beleg. von dem inhalt seiner Alkestis
wissen wir nämlich dreierlei, erstens daſs Apollon bei der hochzeit seines
schützlings Admetos, dem er zur frau verholfen hatte, die Moiren betrunken
machte, damit sie ihm das leben des Admetos gegen ein anderes schenkten.
zweitens kam der Tod vor, der tölpelhafte bediente des Hades, den die
märchen aufgebracht hatten, und schnitt der Alkestis eine locke ab, sie
dem tode zu weihen 58). drittens erschien der freſsgierige Dorerheld
Herakles, rang mit dem Tode und jagte ihm die Alkestis ab. wie stark
die burlesken züge waren, ist jetzt nur aus der verfeinernden und mil-
dernden euripideischen nachbildung zu entnehmen, aber für ein aufmerk-
sames auge sehr deutlich. es ist gar nichts dagegen zu sagen, wenn man die
satyrn selber noch als chor zulassen will. handlung ist genug, und recht
lebhafte, allein sie liegt in der geschichte, die der dichter schwerlich selbst
gestaltet hat, und ob der zuschauer handelnde personen sah, ist fraglich,
da sich ziemlich alles gut erzählen lieſs; von der schilderung des ring-
kampfes ist ein bruchstück erhalten.

Aischylos.

Es war also nun so ziemlich alles zusammen, was zu einem attischen
drama gehört; und doch könnte jemand vom modernen standpunkte sagen,
daſs noch das specifisch dramatische fehle. es gab längst die τραγῳδία:
und doch muſs man sagen, daſs noch das specifisch tragische fehle.
und in der kunst, in welcher nur das vollendete wirklich lebensfähig ist,
gilt es c’est le dernier pas qui coûte. bislang konnten wir auch noch
jeden schritt als etwas nahe liegendes ansehen, das man sich allenfalls
selbst zutrauen mag: hier war ein genius von nöten, der zwar nicht nach
verstandesmäſsiger überlegung eines tages beschlieſst ‘nun wollen wir das
drama schaffen’, aber über den der göttliche geist kommt, der ihn schaffen

58) Schol. Verg. Aen. VI 694. offenbar stammt das citat des verschollenen
dichters aus der hypothesis der euripideischen Alkestis; jetzt steht zu v. 1 nur noch
die δημώδης ἱστορία, d. h. die hesiodische.
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[92/0112] Was ist eine attische tragödie? haft, daſs wieder nur erzählung und gesänge, durchaus keine handlung darin sein konnte. das waren also zwar tragödien, denn der chor, seiner art nach von dem dithyrambischen kaum verschieden, und der sprecher der iamben waren vorhanden, beide neben einander, durch das costum verbunden: aber ein drama würden wir unmöglich ein solches gedicht nennen, es würde höchstens ein oratorium sein, mit 50 stimmen und tanz, aber ohne soli. an dem Falle Milets ist die von dem satyrspiel grell abstechende stimmung uns auffällig, doch ist zu beherzigen, daſs die Athener an dem in unserem sinne tragischen selbst anstoſs genommen haben. und Phrynichos selbst gibt auch für die satyrhafte behandlung eines an sich ernsten stoffes einen beleg. von dem inhalt seiner Alkestis wissen wir nämlich dreierlei, erstens daſs Apollon bei der hochzeit seines schützlings Admetos, dem er zur frau verholfen hatte, die Moiren betrunken machte, damit sie ihm das leben des Admetos gegen ein anderes schenkten. zweitens kam der Tod vor, der tölpelhafte bediente des Hades, den die märchen aufgebracht hatten, und schnitt der Alkestis eine locke ab, sie dem tode zu weihen 58). drittens erschien der freſsgierige Dorerheld Herakles, rang mit dem Tode und jagte ihm die Alkestis ab. wie stark die burlesken züge waren, ist jetzt nur aus der verfeinernden und mil- dernden euripideischen nachbildung zu entnehmen, aber für ein aufmerk- sames auge sehr deutlich. es ist gar nichts dagegen zu sagen, wenn man die satyrn selber noch als chor zulassen will. handlung ist genug, und recht lebhafte, allein sie liegt in der geschichte, die der dichter schwerlich selbst gestaltet hat, und ob der zuschauer handelnde personen sah, ist fraglich, da sich ziemlich alles gut erzählen lieſs; von der schilderung des ring- kampfes ist ein bruchstück erhalten. Es war also nun so ziemlich alles zusammen, was zu einem attischen drama gehört; und doch könnte jemand vom modernen standpunkte sagen, daſs noch das specifisch dramatische fehle. es gab längst die τραγῳδία: und doch muſs man sagen, daſs noch das specifisch tragische fehle. und in der kunst, in welcher nur das vollendete wirklich lebensfähig ist, gilt es c’est le dernier pas qui coûte. bislang konnten wir auch noch jeden schritt als etwas nahe liegendes ansehen, das man sich allenfalls selbst zutrauen mag: hier war ein genius von nöten, der zwar nicht nach verstandesmäſsiger überlegung eines tages beschlieſst ‘nun wollen wir das drama schaffen’, aber über den der göttliche geist kommt, der ihn schaffen 58) Schol. Verg. Aen. VI 694. offenbar stammt das citat des verschollenen dichters aus der hypothesis der euripideischen Alkestis; jetzt steht zu v. 1 nur noch die δημώδης ἱστορία, d. h. die hesiodische.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/112>, abgerufen am 26.11.2024.