Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.Verteidigung der reichspolitik. im grellsten widerspruch. aber die phrase maskirt sehr gut die gegner-schaft zu Sparta, die in Olympia nicht offen hervortreten durfte, übrigens in sehr wirkungsvollen partien gleichsam wider willen des redners hervor- leuchtet (122--32). dann aber lockte der ungleich berühmtere Epitaphios des Gorgias den redner noch mehr zur concurrenz als der Olympiakos, an den es zunächst anknüpfte, und für die wirkung der rede als rhetorisches kunstwerk, das man zum genusse lesen könnte, hat der 'panegyrische' teil das meiste getan. an ihn schliesst sich unmittelbar die partie, die ich erklären will, die verteidigung der athenischen Reichspolitik. denselben gegenstand hat Isokrates im Panathenaikos (62--73) behandelt, zwar im anschluss an seine berühmte schrift, aber doch so, dass er nicht nur deren verständnis sichert, sondern auch einige ergänzungen gibt. Er beginnt mit der behauptung gewisser ankläger, dass die see-Vertei- 6) Das ist mit feinem politischen urteil gesagt, tous men turannein, tous de metoikein kai phusei politas ontas nomo tes politeias apostereisthai, denn darin liegt was Aristoteles im eingange des dritten buches der Politik behandelt, wo er den begriff bürger zu definiren sucht: esti gar tis os en demokratia polites on en oligarkhia pollakis ouk esti polites (1275a 2), und osper metoikos o ton timon me metekhon (1277a 38). wenn es nur gienge, würden wir wol zu hören bekommen, dass Isokrates aristotelische gedanken gestohlen hätte; vielleicht findet sich ein ver- v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 25
Verteidigung der reichspolitik. im grellsten widerspruch. aber die phrase maskirt sehr gut die gegner-schaft zu Sparta, die in Olympia nicht offen hervortreten durfte, übrigens in sehr wirkungsvollen partien gleichsam wider willen des redners hervor- leuchtet (122—32). dann aber lockte der ungleich berühmtere Epitaphios des Gorgias den redner noch mehr zur concurrenz als der Olympiakos, an den es zunächst anknüpfte, und für die wirkung der rede als rhetorisches kunstwerk, das man zum genusse lesen könnte, hat der ‘panegyrische’ teil das meiste getan. an ihn schlieſst sich unmittelbar die partie, die ich erklären will, die verteidigung der athenischen Reichspolitik. denselben gegenstand hat Isokrates im Panathenaikos (62—73) behandelt, zwar im anschluſs an seine berühmte schrift, aber doch so, daſs er nicht nur deren verständnis sichert, sondern auch einige ergänzungen gibt. Er beginnt mit der behauptung gewisser ankläger, daſs die see-Vertei- 6) Das ist mit feinem politischen urteil gesagt, τοὺς μὲν τυϱαννεῖν, τοὺς δὲ μετοικεῖν καὶ φύσει πολίτας ὄντας νόμῳ τῆς πολιτείας ἀποστεϱεῖσϑαι, denn darin liegt was Aristoteles im eingange des dritten buches der Politik behandelt, wo er den begriff bürger zu definiren sucht: ἔστι γάϱ τις ὃς ἐν δημοκϱατίᾳ πολίτης ὢν ἐν ὀλιγαϱχίᾳ πολλάκις οὔκ ἐστι πολίτης (1275a 2), und ὥσπεϱ μέτοικος ὁ τῶν τιμῶν μὴ μετέχων (1277a 38). wenn es nur gienge, würden wir wol zu hören bekommen, daſs Isokrates aristotelische gedanken gestohlen hätte; vielleicht findet sich ein ver- v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 25
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0395" n="385"/><fw place="top" type="header">Verteidigung der reichspolitik.</fw><lb/> im grellsten widerspruch. aber die phrase maskirt sehr gut die gegner-<lb/> schaft zu Sparta, die in Olympia nicht offen hervortreten durfte, übrigens<lb/> in sehr wirkungsvollen partien gleichsam wider willen des redners hervor-<lb/> leuchtet (122—32). dann aber lockte der ungleich berühmtere Epitaphios<lb/> des Gorgias den redner noch mehr zur concurrenz als der Olympiakos,<lb/> an den es zunächst anknüpfte, und für die wirkung der rede als rhetorisches<lb/> kunstwerk, das man zum genusse lesen könnte, hat der ‘panegyrische’ teil<lb/> das meiste getan. an ihn schlieſst sich unmittelbar die partie, die ich<lb/> erklären will, die verteidigung der athenischen Reichspolitik. denselben<lb/> gegenstand hat Isokrates im Panathenaikos (62—73) behandelt, zwar<lb/> im anschluſs an seine berühmte schrift, aber doch so, daſs er nicht nur<lb/> deren verständnis sichert, sondern auch einige ergänzungen gibt.</p><lb/> <p>Er beginnt mit der behauptung gewisser ankläger, daſs die see-<note place="right">Vertei-<lb/> digung der<lb/> reichs-<lb/> politik.</note><lb/> herrschaft Athens den Hellenen viel leid zugefügt hätte, wofür zum<lb/> belege die vernichtung der Melier und Skionaeer angeführt wird. der<lb/> Panathenaikos fügt diesen noch die Toronaeer zu und nennt auſserdem<lb/> den gerichtszwang und die tribute. die widerlegung führt zuerst kurz<lb/> ins feld, daſs die so hart behandelten staaten im kriege mit Athen ge-<lb/> standen hätten (was von Melos in wahrheit nicht gilt), und erklärt dann,<lb/> daſs sich eine so groſse herrschaft ohne harte maſsregeln erfahrungs-<lb/> mäſsig nicht aufrechthalten lieſse. er stellt als kriterium für die qualität<lb/> einer herrschaft das befinden der untertanen auf, dies aber in einer<lb/> weise, die eine parallele herausfordert; und in der tat kann nur eine<lb/> vergleichung einen solchen beweis wirksam machen. diese folgt jedoch<lb/> nicht, sondern es wird die wirtschaftliche blüte der städte unter Athen<lb/> lebhaft geschildert, und die herrschaft als eine durchaus die formen des<lb/> bundesstaates wahrende bezeichnet, weil der vorort jedem einzelnen<lb/> staate sein selbständiges leben gelassen und nur für die durchführung<lb/> derselben verfassung gesorgt hätte, eben aus der volksfreundlichen rück-<lb/> sicht, daſs jeder bürger auch seine angeborenen rechte ausüben sollte,<lb/> statt durch die gewaltherrschaft einer minderzahl in den metökenstand<lb/> hinabgestoſsen zu werden.<note xml:id="note-0395" next="#note-0396" place="foot" n="6)">Das ist mit feinem politischen urteil gesagt, τοὺς μὲν τυϱαννεῖν, τοὺς δὲ<lb/> μετοικεῖν καὶ φύσει πολίτας ὄντας νόμῳ τῆς πολιτείας ἀποστεϱεῖσϑαι, denn darin<lb/> liegt was Aristoteles im eingange des dritten buches der Politik behandelt, wo er<lb/> den begriff bürger zu definiren sucht: ἔστι γάϱ τις ὃς ἐν δημοκϱατίᾳ πολίτης ὢν<lb/> ἐν ὀλιγαϱχίᾳ πολλάκις οὔκ ἐστι πολίτης (1275<hi rendition="#sup">a</hi> 2), und ὥσπεϱ μέτοικος ὁ τῶν τιμῶν<lb/> μὴ μετέχων (1277<hi rendition="#sup">a</hi> 38). wenn es nur gienge, würden wir wol zu hören bekommen,<lb/> daſs Isokrates aristotelische gedanken gestohlen hätte; vielleicht findet sich ein ver-</note> ein siebzigjähriger friede (rund gerechnet,<lb/> <fw place="bottom" type="sig">v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 25</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [385/0395]
Verteidigung der reichspolitik.
im grellsten widerspruch. aber die phrase maskirt sehr gut die gegner-
schaft zu Sparta, die in Olympia nicht offen hervortreten durfte, übrigens
in sehr wirkungsvollen partien gleichsam wider willen des redners hervor-
leuchtet (122—32). dann aber lockte der ungleich berühmtere Epitaphios
des Gorgias den redner noch mehr zur concurrenz als der Olympiakos,
an den es zunächst anknüpfte, und für die wirkung der rede als rhetorisches
kunstwerk, das man zum genusse lesen könnte, hat der ‘panegyrische’ teil
das meiste getan. an ihn schlieſst sich unmittelbar die partie, die ich
erklären will, die verteidigung der athenischen Reichspolitik. denselben
gegenstand hat Isokrates im Panathenaikos (62—73) behandelt, zwar
im anschluſs an seine berühmte schrift, aber doch so, daſs er nicht nur
deren verständnis sichert, sondern auch einige ergänzungen gibt.
Er beginnt mit der behauptung gewisser ankläger, daſs die see-
herrschaft Athens den Hellenen viel leid zugefügt hätte, wofür zum
belege die vernichtung der Melier und Skionaeer angeführt wird. der
Panathenaikos fügt diesen noch die Toronaeer zu und nennt auſserdem
den gerichtszwang und die tribute. die widerlegung führt zuerst kurz
ins feld, daſs die so hart behandelten staaten im kriege mit Athen ge-
standen hätten (was von Melos in wahrheit nicht gilt), und erklärt dann,
daſs sich eine so groſse herrschaft ohne harte maſsregeln erfahrungs-
mäſsig nicht aufrechthalten lieſse. er stellt als kriterium für die qualität
einer herrschaft das befinden der untertanen auf, dies aber in einer
weise, die eine parallele herausfordert; und in der tat kann nur eine
vergleichung einen solchen beweis wirksam machen. diese folgt jedoch
nicht, sondern es wird die wirtschaftliche blüte der städte unter Athen
lebhaft geschildert, und die herrschaft als eine durchaus die formen des
bundesstaates wahrende bezeichnet, weil der vorort jedem einzelnen
staate sein selbständiges leben gelassen und nur für die durchführung
derselben verfassung gesorgt hätte, eben aus der volksfreundlichen rück-
sicht, daſs jeder bürger auch seine angeborenen rechte ausüben sollte,
statt durch die gewaltherrschaft einer minderzahl in den metökenstand
hinabgestoſsen zu werden. 6) ein siebzigjähriger friede (rund gerechnet,
Vertei-
digung der
reichs-
politik.
6) Das ist mit feinem politischen urteil gesagt, τοὺς μὲν τυϱαννεῖν, τοὺς δὲ
μετοικεῖν καὶ φύσει πολίτας ὄντας νόμῳ τῆς πολιτείας ἀποστεϱεῖσϑαι, denn darin
liegt was Aristoteles im eingange des dritten buches der Politik behandelt, wo er
den begriff bürger zu definiren sucht: ἔστι γάϱ τις ὃς ἐν δημοκϱατίᾳ πολίτης ὢν
ἐν ὀλιγαϱχίᾳ πολλάκις οὔκ ἐστι πολίτης (1275a 2), und ὥσπεϱ μέτοικος ὁ τῶν τιμῶν
μὴ μετέχων (1277a 38). wenn es nur gienge, würden wir wol zu hören bekommen,
daſs Isokrates aristotelische gedanken gestohlen hätte; vielleicht findet sich ein ver-
v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 25
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |