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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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10.
DIE PARAGRAPhE UND LYSIAS GEGEN PANKLEON.


Die rhetorische terminologie unterscheidet als eine grundform der
fragstellung, die für die gerichtsrede das erste hauptstück ist, die meta-
lepsis1), die form- oder competenzfrage, ob das angezogene gesetz auf
den rechtsfall passt, oder der process aus formellen gründen unzulässig
ist. in dem ausgebildeten attischen rechte, wie es die demosthenischen
reden zeigen, ist dies auch schon fast ganz durchgeführt. der beklagte
kann den competenzconflict erheben; dann klagt er wider die klage-
schrift, die im falle seines sieges beseitigt ist. es muss aber angenommen
werden, dass derselbe gerichtshof, bei dem die erste klage erhoben war,
auch über die competenzklage zu befinden zuständig ist. uns liegt es zwar
nahe, eine besondere gattung von klagen, die paragraphikai, zu sta-
tuiren, wie denn die ordner der demosthenischen reden eine gattung
von diesen als paragraphikoi ausgesondert haben, und gewiss wären
die thesmotheten ihrer ursprünglichen bestimmung nach geeignet ge-
wesen, nach den bestehenden gesetzen, die sie doch kennen mussten,
jeden competenzconflict zu entscheiden, nötigenfalls darüber ein beson-
deres gericht zu berufen. es ist aber zu einem besonderen processe der
paragraphe und einem besonderen gerichtshofe nicht gekommen, weil
diese feinheit der juristischen distinction erst allmälich vor unsern augen
durch die praxis gefunden wird.

Wir erfahren durch Isokrates (18, 2), dass Archinos2) ein beson-

1) R. Volkmann Rhetorik 84.
2) Archinos gab das treffliche gesetz im interesse der versöhnung: die syko-
phanten, einmal zu worte gelassen, hätten ihren ganzen geifer spucken können, wie
das Lysias in der rede gegen Philon am unerträglichsten tut, und die richter hätten
dann dem der oligarchie bezichtigten kataba kataba entgegengeschrieen. so ist die
praktische politik hier die anregende ursache; aber eine logische fortbildung des
rechtlichen gedankens liegt darin, und diese hat weiter gewirkt.
10.
DIE ΠΑΡΑΓΡΑΦΗ UND LYSIAS GEGEN PANKLEON.


Die rhetorische terminologie unterscheidet als eine grundform der
fragstellung, die für die gerichtsrede das erste hauptstück ist, die μετά-
ληψις1), die form- oder competenzfrage, ob das angezogene gesetz auf
den rechtsfall paſst, oder der proceſs aus formellen gründen unzulässig
ist. in dem ausgebildeten attischen rechte, wie es die demosthenischen
reden zeigen, ist dies auch schon fast ganz durchgeführt. der beklagte
kann den competenzconflict erheben; dann klagt er wider die klage-
schrift, die im falle seines sieges beseitigt ist. es muſs aber angenommen
werden, daſs derselbe gerichtshof, bei dem die erste klage erhoben war,
auch über die competenzklage zu befinden zuständig ist. uns liegt es zwar
nahe, eine besondere gattung von klagen, die παϱαγϱαφικαί, zu sta-
tuiren, wie denn die ordner der demosthenischen reden eine gattung
von diesen als παϱαγϱαφικοί ausgesondert haben, und gewiſs wären
die thesmotheten ihrer ursprünglichen bestimmung nach geeignet ge-
wesen, nach den bestehenden gesetzen, die sie doch kennen muſsten,
jeden competenzconflict zu entscheiden, nötigenfalls darüber ein beson-
deres gericht zu berufen. es ist aber zu einem besonderen processe der
παϱαγϱαφή und einem besonderen gerichtshofe nicht gekommen, weil
diese feinheit der juristischen distinction erst allmälich vor unsern augen
durch die praxis gefunden wird.

Wir erfahren durch Isokrates (18, 2), daſs Archinos2) ein beson-

1) R. Volkmann Rhetorik 84.
2) Archinos gab das treffliche gesetz im interesse der versöhnung: die syko-
phanten, einmal zu worte gelassen, hätten ihren ganzen geifer spucken können, wie
das Lysias in der rede gegen Philon am unerträglichsten tut, und die richter hätten
dann dem der oligarchie bezichtigten κατάβα κατάβα entgegengeschrieen. so ist die
praktische politik hier die anregende ursache; aber eine logische fortbildung des
rechtlichen gedankens liegt darin, und diese hat weiter gewirkt.
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[[368]/0378] 10. DIE ΠΑΡΑΓΡΑΦΗ UND LYSIAS GEGEN PANKLEON. Die rhetorische terminologie unterscheidet als eine grundform der fragstellung, die für die gerichtsrede das erste hauptstück ist, die μετά- ληψις 1), die form- oder competenzfrage, ob das angezogene gesetz auf den rechtsfall paſst, oder der proceſs aus formellen gründen unzulässig ist. in dem ausgebildeten attischen rechte, wie es die demosthenischen reden zeigen, ist dies auch schon fast ganz durchgeführt. der beklagte kann den competenzconflict erheben; dann klagt er wider die klage- schrift, die im falle seines sieges beseitigt ist. es muſs aber angenommen werden, daſs derselbe gerichtshof, bei dem die erste klage erhoben war, auch über die competenzklage zu befinden zuständig ist. uns liegt es zwar nahe, eine besondere gattung von klagen, die παϱαγϱαφικαί, zu sta- tuiren, wie denn die ordner der demosthenischen reden eine gattung von diesen als παϱαγϱαφικοί ausgesondert haben, und gewiſs wären die thesmotheten ihrer ursprünglichen bestimmung nach geeignet ge- wesen, nach den bestehenden gesetzen, die sie doch kennen muſsten, jeden competenzconflict zu entscheiden, nötigenfalls darüber ein beson- deres gericht zu berufen. es ist aber zu einem besonderen processe der παϱαγϱαφή und einem besonderen gerichtshofe nicht gekommen, weil diese feinheit der juristischen distinction erst allmälich vor unsern augen durch die praxis gefunden wird. Wir erfahren durch Isokrates (18, 2), daſs Archinos 2) ein beson- 1) R. Volkmann Rhetorik 84. 2) Archinos gab das treffliche gesetz im interesse der versöhnung: die syko- phanten, einmal zu worte gelassen, hätten ihren ganzen geifer spucken können, wie das Lysias in der rede gegen Philon am unerträglichsten tut, und die richter hätten dann dem der oligarchie bezichtigten κατάβα κατάβα entgegengeschrieen. so ist die praktische politik hier die anregende ursache; aber eine logische fortbildung des rechtlichen gedankens liegt darin, und diese hat weiter gewirkt.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. [368]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/378>, abgerufen am 24.11.2024.