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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 9. Die rede für Polystratos.
überlebenden des sicilischen feldzuges auf sympathie rechnen konnte. die
verteidigungsrede versucht nun in wahrheit nicht einen beweis für die
unschuld des vaters, sondern führt nur billigkeits- und entschuldigungs-
gründe für ihn ins feld. dagegen behandelt mehr als ein drittel der
rede allein die volksfreundlichkeit der söhne, und nur hierfür werden
zeugen aufgerufen. nun versteht es sich ja von selbst, dass Polystratos
auch gesprochen hat, und da uns seine rede fehlt, ist es nicht zu ver-
wundern, dass wir die verteidigung wider die eigentliche anklage nur
ungenügend kennen und demgemäss auch über die anklage nicht klar
sehen. es stimmt dazu, dass die erhaltene rede eines prooemiums ent-
behrt, obwol schon die nennung des namens in § 1 beweist, dass der
redner so wie wir lesen angefangen hat. aber diese tatsache selbst will
verstanden sein, dass sich nicht mehr von der verteidigung erhalten hat,
also (da an zufällige verstümmelung nicht zu denken ist) nur so viel in
die öffentlichkeit kam. als rhetorisches muster ist dies stück nicht er-
halten; es ist das werk eines wenig geschulten Atheners, eben deshalb
für die litteraturgeschichte kostbarer als manche glatte aber leere decla-
mation.15) wenn ein solches stück veröffentlicht ist, so hat der inhalt
dazu bestimmt: es ist das persönliche renommee des redenden sohnes
und seiner familie, der dies plaidoyer dienen soll, so gut wie Andokides
sich bald darauf mit seiner zweiten rede rehabilitiren wollte, trotzdem
sie keinen praktischen erfolg gehabt hatte. mag auch der ausgang des
processes gewesen sein, wie er wolle (ich glaube aber, dass er für den
verklagten günstig war): der junge mann, der für seinen vater auf-
getreten war, wünschte vor dem publikum als ein unverdächtiger und
hochverdienter demokrat dazustehn16), und die misgunst, die er wirklich
ohne sie zu verdienen von den vater erbte, wo möglich von der ganzen
familie, jedenfalls von sich abzuwälzen. darum hatte er einen logopoios
gedungen, darum verbreitete er die rede, mit weglassung des seiner sache
schwerlich besonders günstigen, jedenfalls für seinen zweck entbehrlichen.
dass die rede sich erhielt, war ein glücklicher zufall: als sie aber erst
unter den schützenden namen des Lysias getreten war, teilte sie das
schicksal von dessen reden. und dass sie in die auswahl, von der wir

15) Vielleicht lag dem redner Antiphons verteidigungsrede vor. auf sie hat
Blass sein fragment 79 bezogen teos men gar o polus khronos tou oligou pisto-
teros en. denselben gedanken findet man hier 10. er lag freilich nahe genug,
vgl. z. b. Gorg. Palam. 34.
16) Tydeus 26, und, wenn ich recht vermutet habe, Leon 29 werden genannt;
das sind namen von vollstem demokratischem klange.

III. 9. Die rede für Polystratos.
überlebenden des sicilischen feldzuges auf sympathie rechnen konnte. die
verteidigungsrede versucht nun in wahrheit nicht einen beweis für die
unschuld des vaters, sondern führt nur billigkeits- und entschuldigungs-
gründe für ihn ins feld. dagegen behandelt mehr als ein drittel der
rede allein die volksfreundlichkeit der söhne, und nur hierfür werden
zeugen aufgerufen. nun versteht es sich ja von selbst, daſs Polystratos
auch gesprochen hat, und da uns seine rede fehlt, ist es nicht zu ver-
wundern, daſs wir die verteidigung wider die eigentliche anklage nur
ungenügend kennen und demgemäſs auch über die anklage nicht klar
sehen. es stimmt dazu, daſs die erhaltene rede eines prooemiums ent-
behrt, obwol schon die nennung des namens in § 1 beweist, daſs der
redner so wie wir lesen angefangen hat. aber diese tatsache selbst will
verstanden sein, daſs sich nicht mehr von der verteidigung erhalten hat,
also (da an zufällige verstümmelung nicht zu denken ist) nur so viel in
die öffentlichkeit kam. als rhetorisches muster ist dies stück nicht er-
halten; es ist das werk eines wenig geschulten Atheners, eben deshalb
für die litteraturgeschichte kostbarer als manche glatte aber leere decla-
mation.15) wenn ein solches stück veröffentlicht ist, so hat der inhalt
dazu bestimmt: es ist das persönliche renommee des redenden sohnes
und seiner familie, der dies plaidoyer dienen soll, so gut wie Andokides
sich bald darauf mit seiner zweiten rede rehabilitiren wollte, trotzdem
sie keinen praktischen erfolg gehabt hatte. mag auch der ausgang des
processes gewesen sein, wie er wolle (ich glaube aber, daſs er für den
verklagten günstig war): der junge mann, der für seinen vater auf-
getreten war, wünschte vor dem publikum als ein unverdächtiger und
hochverdienter demokrat dazustehn16), und die misgunst, die er wirklich
ohne sie zu verdienen von den vater erbte, wo möglich von der ganzen
familie, jedenfalls von sich abzuwälzen. darum hatte er einen λογοποιός
gedungen, darum verbreitete er die rede, mit weglassung des seiner sache
schwerlich besonders günstigen, jedenfalls für seinen zweck entbehrlichen.
daſs die rede sich erhielt, war ein glücklicher zufall: als sie aber erst
unter den schützenden namen des Lysias getreten war, teilte sie das
schicksal von dessen reden. und daſs sie in die auswahl, von der wir

15) Vielleicht lag dem redner Antiphons verteidigungsrede vor. auf sie hat
Blaſs sein fragment 79 bezogen τέως μὲν γὰϱ ὁ πολὺς χϱόνος τοῦ ὀλίγου πιστό-
τεϱος ἦν. denselben gedanken findet man hier 10. er lag freilich nahe genug,
vgl. z. b. Gorg. Palam. 34.
16) Tydeus 26, und, wenn ich recht vermutet habe, Leon 29 werden genannt;
das sind namen von vollstem demokratischem klange.
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[362/0372] III. 9. Die rede für Polystratos. überlebenden des sicilischen feldzuges auf sympathie rechnen konnte. die verteidigungsrede versucht nun in wahrheit nicht einen beweis für die unschuld des vaters, sondern führt nur billigkeits- und entschuldigungs- gründe für ihn ins feld. dagegen behandelt mehr als ein drittel der rede allein die volksfreundlichkeit der söhne, und nur hierfür werden zeugen aufgerufen. nun versteht es sich ja von selbst, daſs Polystratos auch gesprochen hat, und da uns seine rede fehlt, ist es nicht zu ver- wundern, daſs wir die verteidigung wider die eigentliche anklage nur ungenügend kennen und demgemäſs auch über die anklage nicht klar sehen. es stimmt dazu, daſs die erhaltene rede eines prooemiums ent- behrt, obwol schon die nennung des namens in § 1 beweist, daſs der redner so wie wir lesen angefangen hat. aber diese tatsache selbst will verstanden sein, daſs sich nicht mehr von der verteidigung erhalten hat, also (da an zufällige verstümmelung nicht zu denken ist) nur so viel in die öffentlichkeit kam. als rhetorisches muster ist dies stück nicht er- halten; es ist das werk eines wenig geschulten Atheners, eben deshalb für die litteraturgeschichte kostbarer als manche glatte aber leere decla- mation. 15) wenn ein solches stück veröffentlicht ist, so hat der inhalt dazu bestimmt: es ist das persönliche renommee des redenden sohnes und seiner familie, der dies plaidoyer dienen soll, so gut wie Andokides sich bald darauf mit seiner zweiten rede rehabilitiren wollte, trotzdem sie keinen praktischen erfolg gehabt hatte. mag auch der ausgang des processes gewesen sein, wie er wolle (ich glaube aber, daſs er für den verklagten günstig war): der junge mann, der für seinen vater auf- getreten war, wünschte vor dem publikum als ein unverdächtiger und hochverdienter demokrat dazustehn 16), und die misgunst, die er wirklich ohne sie zu verdienen von den vater erbte, wo möglich von der ganzen familie, jedenfalls von sich abzuwälzen. darum hatte er einen λογοποιός gedungen, darum verbreitete er die rede, mit weglassung des seiner sache schwerlich besonders günstigen, jedenfalls für seinen zweck entbehrlichen. daſs die rede sich erhielt, war ein glücklicher zufall: als sie aber erst unter den schützenden namen des Lysias getreten war, teilte sie das schicksal von dessen reden. und daſs sie in die auswahl, von der wir 15) Vielleicht lag dem redner Antiphons verteidigungsrede vor. auf sie hat Blaſs sein fragment 79 bezogen τέως μὲν γὰϱ ὁ πολὺς χϱόνος τοῦ ὀλίγου πιστό- τεϱος ἦν. denselben gedanken findet man hier 10. er lag freilich nahe genug, vgl. z. b. Gorg. Palam. 34. 16) Tydeus 26, und, wenn ich recht vermutet habe, Leon 29 werden genannt; das sind namen von vollstem demokratischem klange.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/372>, abgerufen am 24.11.2024.