Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 1. Die quellen der griechischen geschichte.
möchte wol den forschungsreisenden kennen, der einmal dorthin gezogen
ist und von den halbbarbaren gastlich aufgenommen28) in den sitten und
der gesellschaftsordnung zustände fand, die er sich berechtigt hielt für
das originale Dorertum zu halten. mit ächt hellenischer beobachtungs-
gabe hat er geschildert was er mit eben so ächter auffassungsgabe
beobachtet hatte, und sein werk hat dem greisen Platon die anregung
zu der fiction seiner Gesetze gegeben und dann dem Ephoros und Ari-
stoteles das material zu ihren schilderungen geliefert. ich rede von einem
berichterstatter, da die nachrichten, so weit sie die kretischen zustände
angehn, einen einheitlichen eindruck machen, mag es auch mehrere
darstellungen gegeben haben, den Atthiden analog.29) kretische ge-
schichte konnte jener mann freilich nicht geben30), und als die Ptole-
maeer Kreta mit gewalt aus seiner vereinzelung aufrüttelten, sahen sich
die nun erstehenden kretischen localhistoriker, Dosiadas und andere,
genötigt die lücke mit mythischen fabeleien zu füllen, denn selbst helden-
sage wussten sie nicht zu finden. die insel aber gieng von der archaischen
naiven barbarei unheimlich schnell in die abscheulichste culturbarbarei
über. ihre wirkliche bedeutung liegt nur in der zeit des Minos.

Die
dorischen
inseln
Die kleinen dorischen inseln Kythera Melos31) Thera Anaphe32)

28) Die gastfreiheit hebt Aristoteles in der kretischen Politie hervor (Herakl.
am ende); in der Politik (B 1272b) gibt er mit feiner wendung die begründung,
xenelasias to porro pepoieken.
29) Ephoros verweist auf mehrere entgegenstehende meinungen, operirt mit
semeia, mit sprüchwörtern (o Kres ten thalassan), Homerexegese u. dgl., ganz wie
die Atthis des Aristoteles. da für ihn die vergleichung der kretischen verfassung
mit der lakonischen ein hauptgesichtspunkt war, und er beide ziemlich gleich dar-
stellte (Polybios VI 45), so liegt nahe zu glauben, dass das interesse für Spartas
verfassung, das in der ersten hälfte des vierten jahrhunderts so rege war, auch
jenen forschungsreisenden nach Kreta getrieben hat. aber wer war es?
30) Aristoteles und Ephoros operiren mit den epischen traditionen, Rhada-
manthys Minos Idomeneus. Althaimenes stammt aus argeiischer sage, Thaletas aus
lakonischer. die fragmente 518. 519 hat Rose ohne grund in die kretische Politie
gerückt. das erste geht dem chalkidisch thebanischen Rhadamanthys an, der den
Herakles erzogen hat, das andere erklärt eine angeblich heroische sitte (die pyr-
rhiche) aus einer kretischen, wie die Poetik (25) eine epische vocabel durch ihre
kretische epichorische bedeutung erläutern will. die euretai Koures und Purrikhos
(Strab. 480) wird Ephoros selbst erfunden haben.
31) Die angabe über das alter der kolonie Melos kann Thukydides (5, 84) sehr
wol aus der peloponnesischen tradition, also der von Argos, haben.
32) Die Argonautensage von Anaphe (Isyll. 92 Knaack Callimachea Stettin 87)
stammt nicht aus epichorischer aufzeichnung, sonst würde der gott wie in Anaphe

I. 1. Die quellen der griechischen geschichte.
möchte wol den forschungsreisenden kennen, der einmal dorthin gezogen
ist und von den halbbarbaren gastlich aufgenommen28) in den sitten und
der gesellschaftsordnung zustände fand, die er sich berechtigt hielt für
das originale Dorertum zu halten. mit ächt hellenischer beobachtungs-
gabe hat er geschildert was er mit eben so ächter auffaſsungsgabe
beobachtet hatte, und sein werk hat dem greisen Platon die anregung
zu der fiction seiner Gesetze gegeben und dann dem Ephoros und Ari-
stoteles das material zu ihren schilderungen geliefert. ich rede von einem
berichterstatter, da die nachrichten, so weit sie die kretischen zustände
angehn, einen einheitlichen eindruck machen, mag es auch mehrere
darstellungen gegeben haben, den Atthiden analog.29) kretische ge-
schichte konnte jener mann freilich nicht geben30), und als die Ptole-
maeer Kreta mit gewalt aus seiner vereinzelung aufrüttelten, sahen sich
die nun erstehenden kretischen localhistoriker, Dosiadas und andere,
genötigt die lücke mit mythischen fabeleien zu füllen, denn selbst helden-
sage wuſsten sie nicht zu finden. die insel aber gieng von der archaischen
naiven barbarei unheimlich schnell in die abscheulichste culturbarbarei
über. ihre wirkliche bedeutung liegt nur in der zeit des Minos.

Die
dorischen
inseln
Die kleinen dorischen inseln Kythera Melos31) Thera Anaphe32)

28) Die gastfreiheit hebt Aristoteles in der kretischen Politie hervor (Herakl.
am ende); in der Politik (B 1272b) gibt er mit feiner wendung die begründung,
ξενηλασίας τὸ πόϱϱω πεποίηκεν.
29) Ephoros verweist auf mehrere entgegenstehende meinungen, operirt mit
σημεῖα, mit sprüchwörtern (ὁ Κϱὴς τὴν ϑάλασσαν), Homerexegese u. dgl., ganz wie
die Atthis des Aristoteles. da für ihn die vergleichung der kretischen verfassung
mit der lakonischen ein hauptgesichtspunkt war, und er beide ziemlich gleich dar-
stellte (Polybios VI 45), so liegt nahe zu glauben, daſs das interesse für Spartas
verfassung, das in der ersten hälfte des vierten jahrhunderts so rege war, auch
jenen forschungsreisenden nach Kreta getrieben hat. aber wer war es?
30) Aristoteles und Ephoros operiren mit den epischen traditionen, Rhada-
manthys Minos Idomeneus. Althaimenes stammt aus argeiischer sage, Thaletas aus
lakonischer. die fragmente 518. 519 hat Rose ohne grund in die kretische Politie
gerückt. das erste geht dem chalkidisch thebanischen Rhadamanthys an, der den
Herakles erzogen hat, das andere erklärt eine angeblich heroische sitte (die pyr-
rhiche) aus einer kretischen, wie die Poetik (25) eine epische vocabel durch ihre
kretische epichorische bedeutung erläutern will. die εὑϱέται Κούϱης und Πύϱϱιχος
(Strab. 480) wird Ephoros selbst erfunden haben.
31) Die angabe über das alter der kolonie Melos kann Thukydides (5, 84) sehr
wol aus der peloponnesischen tradition, also der von Argos, haben.
32) Die Argonautensage von Anaphe (Isyll. 92 Knaack Callimachea Stettin 87)
stammt nicht aus epichorischer aufzeichnung, sonst würde der gott wie in Anaphe
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0036" n="26"/><fw place="top" type="header">I. 1. Die quellen der griechischen geschichte.</fw><lb/>
möchte wol den forschungsreisenden kennen, der einmal dorthin gezogen<lb/>
ist und von den halbbarbaren gastlich aufgenommen<note place="foot" n="28)">Die gastfreiheit hebt Aristoteles in der kretischen Politie hervor (Herakl.<lb/>
am ende); in der Politik (<hi rendition="#i">B</hi> 1272<hi rendition="#sup">b</hi>) gibt er mit feiner wendung die begründung,<lb/>
&#x03BE;&#x03B5;&#x03BD;&#x03B7;&#x03BB;&#x03B1;&#x03C3;&#x03AF;&#x03B1;&#x03C2; &#x03C4;&#x1F78; &#x03C0;&#x03CC;&#x03F1;&#x03F1;&#x03C9; &#x03C0;&#x03B5;&#x03C0;&#x03BF;&#x03AF;&#x03B7;&#x03BA;&#x03B5;&#x03BD;.</note> in den sitten und<lb/>
der gesellschaftsordnung zustände fand, die er sich berechtigt hielt für<lb/>
das originale Dorertum zu halten. mit ächt hellenischer beobachtungs-<lb/>
gabe hat er geschildert was er mit eben so ächter auffa&#x017F;sungsgabe<lb/>
beobachtet hatte, und sein werk hat dem greisen Platon die anregung<lb/>
zu der fiction seiner Gesetze gegeben und dann dem Ephoros und Ari-<lb/>
stoteles das material zu ihren schilderungen geliefert. ich rede von einem<lb/>
berichterstatter, da die nachrichten, so weit sie die kretischen zustände<lb/>
angehn, einen einheitlichen eindruck machen, mag es auch mehrere<lb/>
darstellungen gegeben haben, den Atthiden analog.<note place="foot" n="29)">Ephoros verweist auf mehrere entgegenstehende meinungen, operirt mit<lb/>
&#x03C3;&#x03B7;&#x03BC;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03B1;, mit sprüchwörtern (&#x1F41; &#x039A;&#x03F1;&#x1F74;&#x03C2; &#x03C4;&#x1F74;&#x03BD; &#x03D1;&#x03AC;&#x03BB;&#x03B1;&#x03C3;&#x03C3;&#x03B1;&#x03BD;), Homerexegese u. dgl., ganz wie<lb/>
die Atthis des Aristoteles. da für ihn die vergleichung der kretischen verfassung<lb/>
mit der lakonischen ein hauptgesichtspunkt war, und er beide ziemlich gleich dar-<lb/>
stellte (Polybios VI 45), so liegt nahe zu glauben, da&#x017F;s das interesse für Spartas<lb/>
verfassung, das in der ersten hälfte des vierten jahrhunderts so rege war, auch<lb/>
jenen forschungsreisenden nach Kreta getrieben hat. aber wer war es?</note> kretische ge-<lb/>
schichte konnte jener mann freilich nicht geben<note place="foot" n="30)">Aristoteles und Ephoros operiren mit den epischen traditionen, Rhada-<lb/>
manthys Minos Idomeneus. Althaimenes stammt aus argeiischer sage, Thaletas aus<lb/>
lakonischer. die fragmente 518. 519 hat Rose ohne grund in die kretische Politie<lb/>
gerückt. das erste geht dem chalkidisch thebanischen Rhadamanthys an, der den<lb/>
Herakles erzogen hat, das andere erklärt eine angeblich heroische sitte (die pyr-<lb/>
rhiche) aus einer kretischen, wie die Poetik (25) eine epische vocabel durch ihre<lb/>
kretische epichorische bedeutung erläutern will. die &#x03B5;&#x1F51;&#x03F1;&#x03AD;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9; &#x039A;&#x03BF;&#x03CD;&#x03F1;&#x03B7;&#x03C2; und &#x03A0;&#x03CD;&#x03F1;&#x03F1;&#x03B9;&#x03C7;&#x03BF;&#x03C2;<lb/>
(Strab. 480) wird Ephoros selbst erfunden haben.</note>, und als die Ptole-<lb/>
maeer Kreta mit gewalt aus seiner vereinzelung aufrüttelten, sahen sich<lb/>
die nun erstehenden kretischen localhistoriker, Dosiadas und andere,<lb/>
genötigt die lücke mit mythischen fabeleien zu füllen, denn selbst helden-<lb/>
sage wu&#x017F;sten sie nicht zu finden. die insel aber gieng von der archaischen<lb/>
naiven barbarei unheimlich schnell in die abscheulichste culturbarbarei<lb/>
über. ihre wirkliche bedeutung liegt nur in der zeit des Minos.</p><lb/>
          <p><note place="left">Die<lb/>
dorischen<lb/>
inseln</note>Die kleinen dorischen inseln Kythera Melos<note place="foot" n="31)">Die angabe über das alter der kolonie Melos kann Thukydides (5, 84) sehr<lb/>
wol aus der peloponnesischen tradition, also der von Argos, haben.</note> Thera Anaphe<note xml:id="note-0036" next="#note-0037" place="foot" n="32)">Die Argonautensage von Anaphe (Isyll. 92 Knaack Callimachea Stettin 87)<lb/>
stammt nicht aus epichorischer aufzeichnung, sonst würde der gott wie in Anaphe</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0036] I. 1. Die quellen der griechischen geschichte. möchte wol den forschungsreisenden kennen, der einmal dorthin gezogen ist und von den halbbarbaren gastlich aufgenommen 28) in den sitten und der gesellschaftsordnung zustände fand, die er sich berechtigt hielt für das originale Dorertum zu halten. mit ächt hellenischer beobachtungs- gabe hat er geschildert was er mit eben so ächter auffaſsungsgabe beobachtet hatte, und sein werk hat dem greisen Platon die anregung zu der fiction seiner Gesetze gegeben und dann dem Ephoros und Ari- stoteles das material zu ihren schilderungen geliefert. ich rede von einem berichterstatter, da die nachrichten, so weit sie die kretischen zustände angehn, einen einheitlichen eindruck machen, mag es auch mehrere darstellungen gegeben haben, den Atthiden analog. 29) kretische ge- schichte konnte jener mann freilich nicht geben 30), und als die Ptole- maeer Kreta mit gewalt aus seiner vereinzelung aufrüttelten, sahen sich die nun erstehenden kretischen localhistoriker, Dosiadas und andere, genötigt die lücke mit mythischen fabeleien zu füllen, denn selbst helden- sage wuſsten sie nicht zu finden. die insel aber gieng von der archaischen naiven barbarei unheimlich schnell in die abscheulichste culturbarbarei über. ihre wirkliche bedeutung liegt nur in der zeit des Minos. Die kleinen dorischen inseln Kythera Melos 31) Thera Anaphe 32) Die dorischen inseln 28) Die gastfreiheit hebt Aristoteles in der kretischen Politie hervor (Herakl. am ende); in der Politik (B 1272b) gibt er mit feiner wendung die begründung, ξενηλασίας τὸ πόϱϱω πεποίηκεν. 29) Ephoros verweist auf mehrere entgegenstehende meinungen, operirt mit σημεῖα, mit sprüchwörtern (ὁ Κϱὴς τὴν ϑάλασσαν), Homerexegese u. dgl., ganz wie die Atthis des Aristoteles. da für ihn die vergleichung der kretischen verfassung mit der lakonischen ein hauptgesichtspunkt war, und er beide ziemlich gleich dar- stellte (Polybios VI 45), so liegt nahe zu glauben, daſs das interesse für Spartas verfassung, das in der ersten hälfte des vierten jahrhunderts so rege war, auch jenen forschungsreisenden nach Kreta getrieben hat. aber wer war es? 30) Aristoteles und Ephoros operiren mit den epischen traditionen, Rhada- manthys Minos Idomeneus. Althaimenes stammt aus argeiischer sage, Thaletas aus lakonischer. die fragmente 518. 519 hat Rose ohne grund in die kretische Politie gerückt. das erste geht dem chalkidisch thebanischen Rhadamanthys an, der den Herakles erzogen hat, das andere erklärt eine angeblich heroische sitte (die pyr- rhiche) aus einer kretischen, wie die Poetik (25) eine epische vocabel durch ihre kretische epichorische bedeutung erläutern will. die εὑϱέται Κούϱης und Πύϱϱιχος (Strab. 480) wird Ephoros selbst erfunden haben. 31) Die angabe über das alter der kolonie Melos kann Thukydides (5, 84) sehr wol aus der peloponnesischen tradition, also der von Argos, haben. 32) Die Argonautensage von Anaphe (Isyll. 92 Knaack Callimachea Stettin 87) stammt nicht aus epichorischer aufzeichnung, sonst würde der gott wie in Anaphe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/36
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/36>, abgerufen am 27.11.2024.