Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

II. 1. Die quellen der griechischen geschichte.
für die gebilde der speculation wurden überhaupt mode.5) gar nicht
unwitzig zeichnete Isokrates einen solchen utopischen könig in dem stil-
gemäss umgebildeten Buseiris, der immer ein mehr scurriler als schreck-
licher Oger gewesen war. aber derselbe Isokrates hatte noch mehr er-
folg, als er mit patriotisch ernster miene ein bild des demokraten-
königs Theseus entwarf. das complement der sehnsucht nach einem
weltenherrscher ist die verleugnung von staat und gesellschaft, die beide
dem Hellenen auf die würde des freien zum gehorchen und gebieten gleich
geschickten mannes gegründet schienen. das neue evangelium, dass der
mensch erst frei und glücklich würde, wenn er wie der hund lebte,
ward mit litterarisch nicht geringem erfolge verkündet; wenn die menge
von den extremsten ausschreitungen am meisten gepackt ward, so ge-
wann der egoistische oder auch der philanthropische individualismus bei
den gebildeten sehr viel terrain. aber diese negation des staates kann
sich der einzelne in wahrheit nur erlauben, so lange trotz ihm die ge-
sellschaft und der staat weiter existiren und ihm die ruhige existenz
sichern, auf dass er sie negiere. Platon, gleich erhaben über die kümmer-
lichen staatswesen der gegenwart wie über den schweine-6) und den
hundestaat, auch den herden- oder militärstaat der speculation, scheute
sich doch nicht vor den äussersten consequenzen, als er von einem be-
griffe aus, dem der gerechtigkeit, den menschen als politisches wesen
und den staat construirte. er scheute auch vor dem gedanken nicht
zurück, selbst mit dem gewaltmittel der tyrannis die welt zu der besten oder
bestmöglichen gesellschaftsordnung, zu tugend und glück zu zwingen. er
wagte sich auch an den litterarischen versuch, die summe der weltgeschichte

5) Bisher sehr wenig erforscht sind die umarbeitungen der alten heroensage,
und die novellen dieser zeit, werke wie das des Herodoros über Herakles, der
Dreifuss des Andron, die Nosten des Antikleides, der Abaris des Herakleides. es ist
sehr wenig damit erzielt, wenn man das eine zu der historie, das andere zur phi-
losophie wirft. die pragmatisirung der Heraklessage kann sehr gut eine politische
tendenz wie die Kyropaedie oder eine philosophische wie der Herakles des Anti-
sthenes gehabt haben. die absicht zu unterhalten braucht den philosophen auch nicht
fern gelegen zu haben. der sokratische dialog und die isokrateische rede sind nicht
geniessbar ohne eine stärkere vorbildung: was hat damals das breite publicum an
lesestoff erhalten? diese frage fordert auch eine antwort.
6) Der schweinestaat, den er Pol. 2, 372d construirt, ist mit nichten der hunde-
staat des Antisthenes: sonst würde er so heissen. es ist ein staat auf der grundlage
des gemeinen materiellen bedürfnisses errichtet; was Platon beweist, ist dass selbst
ein solcher die herrschenden bilden muss, und wenn sie bildung besitzen, verschiebt
sich von selbst die grundlage des staates. der schweinestaat ist der staat des
Manchester-liberalismus.

II. 1. Die quellen der griechischen geschichte.
für die gebilde der speculation wurden überhaupt mode.5) gar nicht
unwitzig zeichnete Isokrates einen solchen utopischen könig in dem stil-
gemäſs umgebildeten Buseiris, der immer ein mehr scurriler als schreck-
licher Oger gewesen war. aber derselbe Isokrates hatte noch mehr er-
folg, als er mit patriotisch ernster miene ein bild des demokraten-
königs Theseus entwarf. das complement der sehnsucht nach einem
weltenherrscher ist die verleugnung von staat und gesellschaft, die beide
dem Hellenen auf die würde des freien zum gehorchen und gebieten gleich
geschickten mannes gegründet schienen. das neue evangelium, daſs der
mensch erst frei und glücklich würde, wenn er wie der hund lebte,
ward mit litterarisch nicht geringem erfolge verkündet; wenn die menge
von den extremsten ausschreitungen am meisten gepackt ward, so ge-
wann der egoistische oder auch der philanthropische individualismus bei
den gebildeten sehr viel terrain. aber diese negation des staates kann
sich der einzelne in wahrheit nur erlauben, so lange trotz ihm die ge-
sellschaft und der staat weiter existiren und ihm die ruhige existenz
sichern, auf daſs er sie negiere. Platon, gleich erhaben über die kümmer-
lichen staatswesen der gegenwart wie über den schweine-6) und den
hundestaat, auch den herden- oder militärstaat der speculation, scheute
sich doch nicht vor den äuſsersten consequenzen, als er von einem be-
griffe aus, dem der gerechtigkeit, den menschen als politisches wesen
und den staat construirte. er scheute auch vor dem gedanken nicht
zurück, selbst mit dem gewaltmittel der tyrannis die welt zu der besten oder
bestmöglichen gesellschaftsordnung, zu tugend und glück zu zwingen. er
wagte sich auch an den litterarischen versuch, die summe der weltgeschichte

5) Bisher sehr wenig erforscht sind die umarbeitungen der alten heroensage,
und die novellen dieser zeit, werke wie das des Herodoros über Herakles, der
Dreifuſs des Andron, die Nosten des Antikleides, der Abaris des Herakleides. es ist
sehr wenig damit erzielt, wenn man das eine zu der historie, das andere zur phi-
losophie wirft. die pragmatisirung der Heraklessage kann sehr gut eine politische
tendenz wie die Kyropaedie oder eine philosophische wie der Herakles des Anti-
sthenes gehabt haben. die absicht zu unterhalten braucht den philosophen auch nicht
fern gelegen zu haben. der sokratische dialog und die isokrateische rede sind nicht
genieſsbar ohne eine stärkere vorbildung: was hat damals das breite publicum an
lesestoff erhalten? diese frage fordert auch eine antwort.
6) Der schweinestaat, den er Pol. 2, 372d construirt, ist mit nichten der hunde-
staat des Antisthenes: sonst würde er so heiſsen. es ist ein staat auf der grundlage
des gemeinen materiellen bedürfnisses errichtet; was Platon beweist, ist daſs selbst
ein solcher die herrschenden bilden muſs, und wenn sie bildung besitzen, verschiebt
sich von selbst die grundlage des staates. der schweinestaat ist der staat des
Manchester-liberalismus.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0024" n="14"/><fw place="top" type="header">II. 1. Die quellen der griechischen geschichte.</fw><lb/>
für die gebilde der speculation wurden überhaupt mode.<note place="foot" n="5)">Bisher sehr wenig erforscht sind die umarbeitungen der alten heroensage,<lb/>
und die novellen dieser zeit, werke wie das des Herodoros über Herakles, der<lb/>
Dreifu&#x017F;s des Andron, die Nosten des Antikleides, der Abaris des Herakleides. es ist<lb/>
sehr wenig damit erzielt, wenn man das eine zu der historie, das andere zur phi-<lb/>
losophie wirft. die pragmatisirung der Heraklessage kann sehr gut eine politische<lb/>
tendenz wie die Kyropaedie oder eine philosophische wie der Herakles des Anti-<lb/>
sthenes gehabt haben. die absicht zu unterhalten braucht den philosophen auch nicht<lb/>
fern gelegen zu haben. der sokratische dialog und die isokrateische rede sind nicht<lb/>
genie&#x017F;sbar ohne eine stärkere vorbildung: was hat damals das breite publicum an<lb/>
lesestoff erhalten? diese frage fordert auch eine antwort.</note> gar nicht<lb/>
unwitzig zeichnete Isokrates einen solchen utopischen könig in dem stil-<lb/>
gemä&#x017F;s umgebildeten Buseiris, der immer ein mehr scurriler als schreck-<lb/>
licher Oger gewesen war. aber derselbe Isokrates hatte noch mehr er-<lb/>
folg, als er mit patriotisch ernster miene ein bild des demokraten-<lb/>
königs Theseus entwarf. das complement der sehnsucht nach einem<lb/>
weltenherrscher ist die verleugnung von staat und gesellschaft, die beide<lb/>
dem Hellenen auf die würde des freien zum gehorchen und gebieten gleich<lb/>
geschickten mannes gegründet schienen. das neue evangelium, da&#x017F;s der<lb/>
mensch erst frei und glücklich würde, wenn er wie der hund lebte,<lb/>
ward mit litterarisch nicht geringem erfolge verkündet; wenn die menge<lb/>
von den extremsten ausschreitungen am meisten gepackt ward, so ge-<lb/>
wann der egoistische oder auch der philanthropische individualismus bei<lb/>
den gebildeten sehr viel terrain. aber diese negation des staates kann<lb/>
sich der einzelne in wahrheit nur erlauben, so lange trotz ihm die ge-<lb/>
sellschaft und der staat weiter existiren und ihm die ruhige existenz<lb/>
sichern, auf da&#x017F;s er sie negiere. Platon, gleich erhaben über die kümmer-<lb/>
lichen staatswesen der gegenwart wie über den schweine-<note place="foot" n="6)">Der schweinestaat, den er Pol. 2, 372<hi rendition="#sup">d</hi> construirt, ist mit nichten der hunde-<lb/>
staat des Antisthenes: sonst würde er so hei&#x017F;sen. es ist ein staat auf der grundlage<lb/>
des gemeinen materiellen bedürfnisses errichtet; was Platon beweist, ist da&#x017F;s selbst<lb/>
ein solcher die herrschenden bilden mu&#x017F;s, und wenn sie bildung besitzen, verschiebt<lb/>
sich von selbst die grundlage des staates. der schweinestaat ist der staat des<lb/>
Manchester-liberalismus.</note> und den<lb/>
hundestaat, auch den herden- oder militärstaat der speculation, scheute<lb/>
sich doch nicht vor den äu&#x017F;sersten consequenzen, als er von einem be-<lb/>
griffe aus, dem der gerechtigkeit, den menschen als politisches wesen<lb/>
und den staat construirte. er scheute auch vor dem gedanken nicht<lb/>
zurück, selbst mit dem gewaltmittel der tyrannis die welt zu der besten oder<lb/>
bestmöglichen gesellschaftsordnung, zu tugend und glück zu zwingen. er<lb/>
wagte sich auch an den litterarischen versuch, die summe der weltgeschichte<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0024] II. 1. Die quellen der griechischen geschichte. für die gebilde der speculation wurden überhaupt mode. 5) gar nicht unwitzig zeichnete Isokrates einen solchen utopischen könig in dem stil- gemäſs umgebildeten Buseiris, der immer ein mehr scurriler als schreck- licher Oger gewesen war. aber derselbe Isokrates hatte noch mehr er- folg, als er mit patriotisch ernster miene ein bild des demokraten- königs Theseus entwarf. das complement der sehnsucht nach einem weltenherrscher ist die verleugnung von staat und gesellschaft, die beide dem Hellenen auf die würde des freien zum gehorchen und gebieten gleich geschickten mannes gegründet schienen. das neue evangelium, daſs der mensch erst frei und glücklich würde, wenn er wie der hund lebte, ward mit litterarisch nicht geringem erfolge verkündet; wenn die menge von den extremsten ausschreitungen am meisten gepackt ward, so ge- wann der egoistische oder auch der philanthropische individualismus bei den gebildeten sehr viel terrain. aber diese negation des staates kann sich der einzelne in wahrheit nur erlauben, so lange trotz ihm die ge- sellschaft und der staat weiter existiren und ihm die ruhige existenz sichern, auf daſs er sie negiere. Platon, gleich erhaben über die kümmer- lichen staatswesen der gegenwart wie über den schweine- 6) und den hundestaat, auch den herden- oder militärstaat der speculation, scheute sich doch nicht vor den äuſsersten consequenzen, als er von einem be- griffe aus, dem der gerechtigkeit, den menschen als politisches wesen und den staat construirte. er scheute auch vor dem gedanken nicht zurück, selbst mit dem gewaltmittel der tyrannis die welt zu der besten oder bestmöglichen gesellschaftsordnung, zu tugend und glück zu zwingen. er wagte sich auch an den litterarischen versuch, die summe der weltgeschichte 5) Bisher sehr wenig erforscht sind die umarbeitungen der alten heroensage, und die novellen dieser zeit, werke wie das des Herodoros über Herakles, der Dreifuſs des Andron, die Nosten des Antikleides, der Abaris des Herakleides. es ist sehr wenig damit erzielt, wenn man das eine zu der historie, das andere zur phi- losophie wirft. die pragmatisirung der Heraklessage kann sehr gut eine politische tendenz wie die Kyropaedie oder eine philosophische wie der Herakles des Anti- sthenes gehabt haben. die absicht zu unterhalten braucht den philosophen auch nicht fern gelegen zu haben. der sokratische dialog und die isokrateische rede sind nicht genieſsbar ohne eine stärkere vorbildung: was hat damals das breite publicum an lesestoff erhalten? diese frage fordert auch eine antwort. 6) Der schweinestaat, den er Pol. 2, 372d construirt, ist mit nichten der hunde- staat des Antisthenes: sonst würde er so heiſsen. es ist ein staat auf der grundlage des gemeinen materiellen bedürfnisses errichtet; was Platon beweist, ist daſs selbst ein solcher die herrschenden bilden muſs, und wenn sie bildung besitzen, verschiebt sich von selbst die grundlage des staates. der schweinestaat ist der staat des Manchester-liberalismus.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/24
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/24>, abgerufen am 24.11.2024.