Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.II. 1. Die quellen der griechischen geschichte. gleichlich aber auch so widerspruchsvoll wie die geschichtliche traditionwar und die weltanschauung des Ioniers sein musste, der in Athen das vaterland gefunden hatte. er selbst stammte aus einer stadt, die auf karischem grunde von Dorern erbaut längst die überlegene ionische cultur angenommen hatte; so war er losgelöst von dem was ihm als das vorurteil und die beschränktheit eines an der scholle klebenden autoch- thonentumes erscheinen mochte. er hatte die weite welt gesehen, durch- aus frei von dem bornirten hochmut, der alles barbarisch findet was nicht wie bei ihm zu hause ist, gleichermassen fähig die von keiner cultur gebrochene elementare naturkraft bei den freien Skythen anzuerkennen, wie im Perserreiche die überlegenheit einer älteren und reicheren materiellen cultur. ihm imponirten die aegyptischen priester mächtig, wenn sie ihm ihr Ellenes aei paides entgegenriefen.3) aber die weite seines umblickes hatte ihn den vorzug seines vaterlandes nur richtig schätzen gelehrt. dies vaterland war das attische Reich, und sein vorzug 3) Herodotos hat, weil er die orientalen kannte, von denen dem reisenden
zumal nur recht wel[t]läufige und vorurteilslose begegneten, das urteil mit grösster offenheit abgegeben, dass man selbst bei den Athenern sehr viel mehr naivetät fände als bei den barbaren. 1, 60 erzählt er die list des Peisistratos mit Phye, die ihm ganz unbegreiflich ist, "da ersinnen sie etwas, worin ich nur die kolossalste naivetät finden kann, die ich kenne. in der tat, die barbaren müssen sich schon früher von den Hellenen darin unterschieden haben, dass sie gewitzigter und freier von kin- discher einfalt waren, wenn damals die Peisistratiden unter den Athenern, die doch für die gescheidtesten der Hellenen gelten, folgendes ersinnen durften". der brave mann erzählt die geschichte, wie er sie gehört hat und wir sie glauben dürfen, aber wie er sie den Athenern, die er kennt, und die erst durch das letzte jahrhundert in den ruf der sophia (der schlauheit und gescheidtheit) gelangt sind, nicht zutrauen kann. so etwas war in Memphis und Sardes nicht möglich, das weiss er; dazu gehört eine euetheia, wie sie der sophist dem zuschreibt, der an vogelzeichen glaubt (Eur. Hel. 747), oder dem der auf ein orakel hin seine tochter opfert (Andr. 625), oder der wider die logik e kardopos für e kardope sagt (Ar. Wolk. 1258): ihr gegen- satz ist die dexiotes, die alles gleich am rechten ende anpackt. dexion nennt der athenische komiker sein publicum, weil es seine anspielungen versteht (Ritt. 233), dexios ist der Demos zu hause (alopekos ikhnesi bainei sagt schon Solon), auf der Pnyx sperrt er das maul auf (Ritt. 753), und der demagoge ist dexios (719), und der dichter (Fr. 1009). unter diesen sophoi Athenaioi lebte Herodotos, darum frap- pirte ihn mit recht die veränderung seit der tyrannenzeit. aber er fand euetheia genug unter den Hellenen sonst, auch wol bei den Athenern alten schlages, und den racendünkel, den ihm jetzt der aberwitz der kritiker aufzwingt, kannte er nicht; es machte ihm vielmehr ersichtlich vergnügen, den Athenern die überlegenheit der barbaren vorzurücken. ganz dieselbe stimmung zeigt das zweite buch oft; der vater- ländische stolz auf freiheit und demokratie ist mit ihr ganz gut verträglich. II. 1. Die quellen der griechischen geschichte. gleichlich aber auch so widerspruchsvoll wie die geschichtliche traditionwar und die weltanschauung des Ioniers sein muſste, der in Athen das vaterland gefunden hatte. er selbst stammte aus einer stadt, die auf karischem grunde von Dorern erbaut längst die überlegene ionische cultur angenommen hatte; so war er losgelöst von dem was ihm als das vorurteil und die beschränktheit eines an der scholle klebenden autoch- thonentumes erscheinen mochte. er hatte die weite welt gesehen, durch- aus frei von dem bornirten hochmut, der alles barbarisch findet was nicht wie bei ihm zu hause ist, gleichermaſsen fähig die von keiner cultur gebrochene elementare naturkraft bei den freien Skythen anzuerkennen, wie im Perserreiche die überlegenheit einer älteren und reicheren materiellen cultur. ihm imponirten die aegyptischen priester mächtig, wenn sie ihm ihr Ἕλληνες ἀεὶ παῖδες entgegenriefen.3) aber die weite seines umblickes hatte ihn den vorzug seines vaterlandes nur richtig schätzen gelehrt. dies vaterland war das attische Reich, und sein vorzug 3) Herodotos hat, weil er die orientalen kannte, von denen dem reisenden
zumal nur recht wel[t]läufige und vorurteilslose begegneten, das urteil mit gröſster offenheit abgegeben, daſs man selbst bei den Athenern sehr viel mehr naivetät fände als bei den barbaren. 1, 60 erzählt er die list des Peisistratos mit Phye, die ihm ganz unbegreiflich ist, “da ersinnen sie etwas, worin ich nur die koloſsalste naivetät finden kann, die ich kenne. in der tat, die barbaren müssen sich schon früher von den Hellenen darin unterschieden haben, daſs sie gewitzigter und freier von kin- discher einfalt waren, wenn damals die Peisistratiden unter den Athenern, die doch für die gescheidtesten der Hellenen gelten, folgendes ersinnen durften”. der brave mann erzählt die geschichte, wie er sie gehört hat und wir sie glauben dürfen, aber wie er sie den Athenern, die er kennt, und die erst durch das letzte jahrhundert in den ruf der σοφία (der schlauheit und gescheidtheit) gelangt sind, nicht zutrauen kann. so etwas war in Memphis und Sardes nicht möglich, das weiſs er; dazu gehört eine εὐήϑεια, wie sie der sophist dem zuschreibt, der an vogelzeichen glaubt (Eur. Hel. 747), oder dem der auf ein orakel hin seine tochter opfert (Andr. 625), oder der wider die logik ἡ κάϱδοπος für ἡ καϱδόπη sagt (Ar. Wolk. 1258): ihr gegen- satz ist die δεξιότης, die alles gleich am rechten ende anpackt. δεξιόν nennt der athenische komiker sein publicum, weil es seine anspielungen versteht (Ritt. 233), δεξιός ist der Δῆμος zu hause (ἀλώπεκος ἴχνεσι βαίνει sagt schon Solon), auf der Pnyx sperrt er das maul auf (Ritt. 753), und der demagoge ist δεξιός (719), und der dichter (Fr. 1009). unter diesen σοφοὶ Ἀϑηναῖοι lebte Herodotos, darum frap- pirte ihn mit recht die veränderung seit der tyrannenzeit. aber er fand εὐήϑεια genug unter den Hellenen sonst, auch wol bei den Athenern alten schlages, und den racendünkel, den ihm jetzt der aberwitz der kritiker aufzwingt, kannte er nicht; es machte ihm vielmehr ersichtlich vergnügen, den Athenern die überlegenheit der barbaren vorzurücken. ganz dieselbe stimmung zeigt das zweite buch oft; der vater- ländische stolz auf freiheit und demokratie ist mit ihr ganz gut verträglich. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0020" n="10"/><fw place="top" type="header">II. 1. 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II. 1. Die quellen der griechischen geschichte.
gleichlich aber auch so widerspruchsvoll wie die geschichtliche tradition
war und die weltanschauung des Ioniers sein muſste, der in Athen das
vaterland gefunden hatte. er selbst stammte aus einer stadt, die auf
karischem grunde von Dorern erbaut längst die überlegene ionische
cultur angenommen hatte; so war er losgelöst von dem was ihm als das
vorurteil und die beschränktheit eines an der scholle klebenden autoch-
thonentumes erscheinen mochte. er hatte die weite welt gesehen, durch-
aus frei von dem bornirten hochmut, der alles barbarisch findet was
nicht wie bei ihm zu hause ist, gleichermaſsen fähig die von keiner cultur
gebrochene elementare naturkraft bei den freien Skythen anzuerkennen,
wie im Perserreiche die überlegenheit einer älteren und reicheren
materiellen cultur. ihm imponirten die aegyptischen priester mächtig,
wenn sie ihm ihr Ἕλληνες ἀεὶ παῖδες entgegenriefen. 3) aber die weite
seines umblickes hatte ihn den vorzug seines vaterlandes nur richtig
schätzen gelehrt. dies vaterland war das attische Reich, und sein vorzug
3) Herodotos hat, weil er die orientalen kannte, von denen dem reisenden
zumal nur recht weltläufige und vorurteilslose begegneten, das urteil mit gröſster
offenheit abgegeben, daſs man selbst bei den Athenern sehr viel mehr naivetät fände
als bei den barbaren. 1, 60 erzählt er die list des Peisistratos mit Phye, die ihm
ganz unbegreiflich ist, “da ersinnen sie etwas, worin ich nur die koloſsalste naivetät
finden kann, die ich kenne. in der tat, die barbaren müssen sich schon früher von
den Hellenen darin unterschieden haben, daſs sie gewitzigter und freier von kin-
discher einfalt waren, wenn damals die Peisistratiden unter den Athenern, die doch
für die gescheidtesten der Hellenen gelten, folgendes ersinnen durften”. der brave
mann erzählt die geschichte, wie er sie gehört hat und wir sie glauben dürfen, aber
wie er sie den Athenern, die er kennt, und die erst durch das letzte jahrhundert
in den ruf der σοφία (der schlauheit und gescheidtheit) gelangt sind, nicht zutrauen
kann. so etwas war in Memphis und Sardes nicht möglich, das weiſs er; dazu gehört
eine εὐήϑεια, wie sie der sophist dem zuschreibt, der an vogelzeichen glaubt (Eur.
Hel. 747), oder dem der auf ein orakel hin seine tochter opfert (Andr. 625), oder
der wider die logik ἡ κάϱδοπος für ἡ καϱδόπη sagt (Ar. Wolk. 1258): ihr gegen-
satz ist die δεξιότης, die alles gleich am rechten ende anpackt. δεξιόν nennt der
athenische komiker sein publicum, weil es seine anspielungen versteht (Ritt. 233),
δεξιός ist der Δῆμος zu hause (ἀλώπεκος ἴχνεσι βαίνει sagt schon Solon), auf der
Pnyx sperrt er das maul auf (Ritt. 753), und der demagoge ist δεξιός (719), und
der dichter (Fr. 1009). unter diesen σοφοὶ Ἀϑηναῖοι lebte Herodotos, darum frap-
pirte ihn mit recht die veränderung seit der tyrannenzeit. aber er fand εὐήϑεια
genug unter den Hellenen sonst, auch wol bei den Athenern alten schlages, und den
racendünkel, den ihm jetzt der aberwitz der kritiker aufzwingt, kannte er nicht;
es machte ihm vielmehr ersichtlich vergnügen, den Athenern die überlegenheit der
barbaren vorzurücken. ganz dieselbe stimmung zeigt das zweite buch oft; der vater-
ländische stolz auf freiheit und demokratie ist mit ihr ganz gut verträglich.
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