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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 4. Patrios politeia.

Der krieg
und seine
folgen.
Aber es kam der krieg, der die landbevölkerung zum grossen teile
beschäftigungslos in die stadt trieb. gleichzeitig hörte der abfluss der
armen bürger in die colonien auf, die pest beschleunigte den notwen-
digen process, dass eine neue generation für den staat bestimmend wer-
den musste. die sorge für das Reich und den krieg lenkte zwar das
interesse von kämpfen um die verfassung selbst zunächst ab; aber die
schweren proben, denen sie dadurch unterworfen ward, hat sie nicht be-
standen.

Wir hören noch die entrüstung der leute vom alten schlage, dass
in der volksversammlung 'jeder elende kerl aufstehn kann und eine rede
halten, natürlich nicht im interesse der ordnung, aber im wolverstan-
denen interesse des demos, dem an der ordnung nichts liegen kann, aber
wol an demokratischer gesinnung'. noch Perikles selbst hatte erleben
müssen, dass ein reicher industrieller aus Kydathenaion, der freilich eine
claque von gemeindegenossen leicht auf die pnyx bringen konnte, als redner
in der volksversammlung ihm sehr unangenehm ward. Nikias ward es
schliesslich zu arg, dass dieser parvenu, der vom kriege keine erfahrung
hatte, unter dem jubel des volkes ihm immer wieder über den feldzugs-
plan vorhaltungen machte. so tat er den unbedachten ruf 'so sei du
feldherr an meiner statt und mache es besser'. Kleon aber nahm ihn
beim worte und machte es besser. das wäre sehr schön gewesen, wenn
es mehr als eine gelungene improvisation gewesen wäre. denn feldherr
konnte der brave bürgersmann wirklich nicht sein, so tüchtig er als
ratsherr gewesen war. als er es zum zweiten male versuchte, kostete es
ihm das leben, Nikias bekam das übergewicht zurück, und der staat
schloss einen faulen frieden.

Kleon hatte schon als ratsherr verschwörungen gewittert, vor der
tyrannis gewarnt und ein wachsames auge über die jüngsten politiker
gehalten, die schüler der neuen bildung. damals lachte man ihn aus.
aber bald nach seinem tode offenbarte sich, wie scharf er gesehen hatte.
der staat stand wirklich in einer krisis, und die entgegengesetzten unter-

das land zu seinem rechte. nach 431 sassen nur zu viele auch aus Thria Kephisia
und Marathon in der stadt, und nur zu leicht wird man diese leute, sowol weil sie
wollten, wie weil die bauern zu hause bleiben wollten, praesentirt haben. die ge-
meindeordnung ist eben denaturirt dadurch, dass die freizügigkeit mit der quasi-
gentilicischen gemeindeangehörigkeit verbunden ward. die Marathonier, die in die
stadt oder den hafen verzogen waren, hatten an Marathon gar kein wirkliches inter-
esse mehr, und sie werden doch überwiegend Marathon in rat, heliaea und beamten-
schaft vertreten haben.
II. 4. Πάτϱιος πολιτεία.

Der krieg
und seine
folgen.
Aber es kam der krieg, der die landbevölkerung zum groſsen teile
beschäftigungslos in die stadt trieb. gleichzeitig hörte der abfluſs der
armen bürger in die colonien auf, die pest beschleunigte den notwen-
digen proceſs, daſs eine neue generation für den staat bestimmend wer-
den muſste. die sorge für das Reich und den krieg lenkte zwar das
interesse von kämpfen um die verfassung selbst zunächst ab; aber die
schweren proben, denen sie dadurch unterworfen ward, hat sie nicht be-
standen.

Wir hören noch die entrüstung der leute vom alten schlage, daſs
in der volksversammlung ‘jeder elende kerl aufstehn kann und eine rede
halten, natürlich nicht im interesse der ordnung, aber im wolverstan-
denen interesse des demos, dem an der ordnung nichts liegen kann, aber
wol an demokratischer gesinnung’. noch Perikles selbst hatte erleben
müssen, daſs ein reicher industrieller aus Kydathenaion, der freilich eine
claque von gemeindegenossen leicht auf die pnyx bringen konnte, als redner
in der volksversammlung ihm sehr unangenehm ward. Nikias ward es
schlieſslich zu arg, daſs dieser parvenu, der vom kriege keine erfahrung
hatte, unter dem jubel des volkes ihm immer wieder über den feldzugs-
plan vorhaltungen machte. so tat er den unbedachten ruf ‘so sei du
feldherr an meiner statt und mache es besser’. Kleon aber nahm ihn
beim worte und machte es besser. das wäre sehr schön gewesen, wenn
es mehr als eine gelungene improvisation gewesen wäre. denn feldherr
konnte der brave bürgersmann wirklich nicht sein, so tüchtig er als
ratsherr gewesen war. als er es zum zweiten male versuchte, kostete es
ihm das leben, Nikias bekam das übergewicht zurück, und der staat
schloſs einen faulen frieden.

Kleon hatte schon als ratsherr verschwörungen gewittert, vor der
tyrannis gewarnt und ein wachsames auge über die jüngsten politiker
gehalten, die schüler der neuen bildung. damals lachte man ihn aus.
aber bald nach seinem tode offenbarte sich, wie scharf er gesehen hatte.
der staat stand wirklich in einer krisis, und die entgegengesetzten unter-

das land zu seinem rechte. nach 431 saſsen nur zu viele auch aus Thria Kephisia
und Marathon in der stadt, und nur zu leicht wird man diese leute, sowol weil sie
wollten, wie weil die bauern zu hause bleiben wollten, praesentirt haben. die ge-
meindeordnung ist eben denaturirt dadurch, daſs die freizügigkeit mit der quasi-
gentilicischen gemeindeangehörigkeit verbunden ward. die Marathonier, die in die
stadt oder den hafen verzogen waren, hatten an Marathon gar kein wirkliches inter-
esse mehr, und sie werden doch überwiegend Marathon in rat, heliaea und beamten-
schaft vertreten haben.
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[112/0122] II. 4. Πάτϱιος πολιτεία. Aber es kam der krieg, der die landbevölkerung zum groſsen teile beschäftigungslos in die stadt trieb. gleichzeitig hörte der abfluſs der armen bürger in die colonien auf, die pest beschleunigte den notwen- digen proceſs, daſs eine neue generation für den staat bestimmend wer- den muſste. die sorge für das Reich und den krieg lenkte zwar das interesse von kämpfen um die verfassung selbst zunächst ab; aber die schweren proben, denen sie dadurch unterworfen ward, hat sie nicht be- standen. Der krieg und seine folgen. Wir hören noch die entrüstung der leute vom alten schlage, daſs in der volksversammlung ‘jeder elende kerl aufstehn kann und eine rede halten, natürlich nicht im interesse der ordnung, aber im wolverstan- denen interesse des demos, dem an der ordnung nichts liegen kann, aber wol an demokratischer gesinnung’. noch Perikles selbst hatte erleben müssen, daſs ein reicher industrieller aus Kydathenaion, der freilich eine claque von gemeindegenossen leicht auf die pnyx bringen konnte, als redner in der volksversammlung ihm sehr unangenehm ward. Nikias ward es schlieſslich zu arg, daſs dieser parvenu, der vom kriege keine erfahrung hatte, unter dem jubel des volkes ihm immer wieder über den feldzugs- plan vorhaltungen machte. so tat er den unbedachten ruf ‘so sei du feldherr an meiner statt und mache es besser’. Kleon aber nahm ihn beim worte und machte es besser. das wäre sehr schön gewesen, wenn es mehr als eine gelungene improvisation gewesen wäre. denn feldherr konnte der brave bürgersmann wirklich nicht sein, so tüchtig er als ratsherr gewesen war. als er es zum zweiten male versuchte, kostete es ihm das leben, Nikias bekam das übergewicht zurück, und der staat schloſs einen faulen frieden. Kleon hatte schon als ratsherr verschwörungen gewittert, vor der tyrannis gewarnt und ein wachsames auge über die jüngsten politiker gehalten, die schüler der neuen bildung. damals lachte man ihn aus. aber bald nach seinem tode offenbarte sich, wie scharf er gesehen hatte. der staat stand wirklich in einer krisis, und die entgegengesetzten unter- 6) 6) das land zu seinem rechte. nach 431 saſsen nur zu viele auch aus Thria Kephisia und Marathon in der stadt, und nur zu leicht wird man diese leute, sowol weil sie wollten, wie weil die bauern zu hause bleiben wollten, praesentirt haben. die ge- meindeordnung ist eben denaturirt dadurch, daſs die freizügigkeit mit der quasi- gentilicischen gemeindeangehörigkeit verbunden ward. die Marathonier, die in die stadt oder den hafen verzogen waren, hatten an Marathon gar kein wirkliches inter- esse mehr, und sie werden doch überwiegend Marathon in rat, heliaea und beamten- schaft vertreten haben.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/122>, abgerufen am 24.11.2024.