Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.Die kritik der verfassung. recht anmasst, verklagen. er kann sich durch ein bittgesuch bei dem volke,das dafür eine bestimmte versammlung angesetzt hat, die freiheit erwirken, vor dem volke alles was er gerade will vorzubringen. er kann durch die ver- schiedenen formen der denuntiation (eisaggelia probole phasis endeixis, eisaggelia) vergehen, die ein öffentliches interesse verletzen, insbesondere amtsvergehen, vor das volk oder den rat bringen. er kann auch den ein- zelnen bürger, der sich persönliche übergriffe zu schulden kommen lässt, wie sie die Athener schwerlich ohne grund den machthabern in monarchisch und oligarchisch regirten staaten vorrücken, insbesondere ehrenkränkungen anderer bürger, vor gericht ziehen 30). das ius intercedendi ist keine phrase, aber es ist nicht nur nicht gesetzlich formulirt, es ist auch als ein allgemeines grundrecht nur durch eine starke übertreibung aus dem geltenden rechte zu abstrahiren. und mit Solon lässt es sich vollends nur so zusammenbringen, dass er als der urheber der attischen institutionen anerkannt wird, die es implicite enthalten. der nachweis würde nicht leicht sein, jedenfalls aber würde Aristoteles die sache nicht ohne jedes wort der erläuterung oder begründung hingestellt haben, wenn er diese abstrac- tion erst selbst vorgenommen hätte. das hat er nicht. denn bei Plutarch 18 schliesst sich an die darstellung über die vier classen, die mit der aristo- telischen parallel geht und den theten, genau wie Aristoteles, lediglich das recht der teilnahme an volksversammlung und gericht zuweist, sofort eine ganz ähnliche beurteilung des gerichtes 31) und des rechtes, dass jeder für jeden eintreten dürfe, dieses mit breiterer begründung aus der volksfreundlichen tendenz Solons, die sich zu einem apophthegma ver- dichtet hat. dagegen fehlt die aufhebung der schuldknechtschaft bei ihm: deren rechte würdigung ist eben ein besonderes verdienst des Aristoteles; ebenso die schöne und gerechte abwehr der böswilligen insinuationen, 30) Vgl. was im capitel 7 über die graphai ubreos moikheias u. dgl. aus- geführt ist. 31) Plutarch (18, 4) schiebt von sich aus recht ungeschickt die verse d[ - 1 Zeichen fehlt]mo men gar
edoka hier ein, gleich als ob in ihnen Solon die demokratie als sein werk bezeichnete. er hat zweierlei zusammengeworfen, dass Solon durch die gerichte stifter der demo- kratie geworden ist, das ist das urteil der nachwelt, und dass er der demokratie nur das unerlässliche hat geben wollen, das sagt sein vers. das liess sich höchstens zu einem gegensatze verwerten, wie es Aristoteles in der Politik getan hat: so wie es bei Plutarch steht, ist es ein hübsches citat am falschen flecke. so etwas hat er oft genug in allen schriften gemacht. wer sich bemüht, fehlende mittelglieder zu suppliren, oder in einer praesumirten quelle den zusammenhang, der hier fehlt, zu suchen, vergisst, dass auch Plutarch zunächst als Plutarch inter- pretirt werden muss. Die kritik der verfassung. recht anmaſst, verklagen. er kann sich durch ein bittgesuch bei dem volke,das dafür eine bestimmte versammlung angesetzt hat, die freiheit erwirken, vor dem volke alles was er gerade will vorzubringen. er kann durch die ver- schiedenen formen der denuntiation (εἰσαγγελία πϱοβολή φάσις ἔνδειξις, εἰσαγγελία) vergehen, die ein öffentliches interesse verletzen, insbesondere amtsvergehen, vor das volk oder den rat bringen. er kann auch den ein- zelnen bürger, der sich persönliche übergriffe zu schulden kommen läſst, wie sie die Athener schwerlich ohne grund den machthabern in monarchisch und oligarchisch regirten staaten vorrücken, insbesondere ehrenkränkungen anderer bürger, vor gericht ziehen 30). das ius intercedendi ist keine phrase, aber es ist nicht nur nicht gesetzlich formulirt, es ist auch als ein allgemeines grundrecht nur durch eine starke übertreibung aus dem geltenden rechte zu abstrahiren. und mit Solon läſst es sich vollends nur so zusammenbringen, daſs er als der urheber der attischen institutionen anerkannt wird, die es implicite enthalten. der nachweis würde nicht leicht sein, jedenfalls aber würde Aristoteles die sache nicht ohne jedes wort der erläuterung oder begründung hingestellt haben, wenn er diese abstrac- tion erst selbst vorgenommen hätte. das hat er nicht. denn bei Plutarch 18 schlieſst sich an die darstellung über die vier classen, die mit der aristo- telischen parallel geht und den theten, genau wie Aristoteles, lediglich das recht der teilnahme an volksversammlung und gericht zuweist, sofort eine ganz ähnliche beurteilung des gerichtes 31) und des rechtes, daſs jeder für jeden eintreten dürfe, dieses mit breiterer begründung aus der volksfreundlichen tendenz Solons, die sich zu einem apophthegma ver- dichtet hat. dagegen fehlt die aufhebung der schuldknechtschaft bei ihm: deren rechte würdigung ist eben ein besonderes verdienst des Aristoteles; ebenso die schöne und gerechte abwehr der böswilligen insinuationen, 30) Vgl. was im capitel 7 über die γϱαφαὶ ὕβϱεως μοιχείας u. dgl. aus- geführt ist. 31) Plutarch (18, 4) schiebt von sich aus recht ungeschickt die verse δ[ – 1 Zeichen fehlt]μῳ μὲν γὰϱ
ἔδωκα hier ein, gleich als ob in ihnen Solon die demokratie als sein werk bezeichnete. er hat zweierlei zusammengeworfen, daſs Solon durch die gerichte stifter der demo- kratie geworden ist, das ist das urteil der nachwelt, und daſs er der demokratie nur das unerlässliche hat geben wollen, das sagt sein vers. das lieſs sich höchstens zu einem gegensatze verwerten, wie es Aristoteles in der Politik getan hat: so wie es bei Plutarch steht, ist es ein hübsches citat am falschen flecke. so etwas hat er oft genug in allen schriften gemacht. wer sich bemüht, fehlende mittelglieder zu suppliren, oder in einer praesumirten quelle den zusammenhang, der hier fehlt, zu suchen, vergiſst, daſs auch Plutarch zunächst als Plutarch inter- pretirt werden muſs. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0075" n="61"/><fw place="top" type="header">Die kritik der verfassung.</fw><lb/> recht anmaſst, verklagen. er kann sich durch ein bittgesuch bei dem volke,<lb/> das dafür eine bestimmte versammlung angesetzt hat, die freiheit erwirken,<lb/> vor dem volke alles was er gerade will vorzubringen. er kann durch die ver-<lb/> schiedenen formen der denuntiation (εἰσαγγελία πϱοβολή φάσις ἔνδειξις,<lb/> εἰσαγγελία)<lb/> vergehen, die ein öffentliches interesse verletzen, insbesondere<lb/> amtsvergehen, vor das volk oder den rat bringen. er kann auch den ein-<lb/> zelnen bürger, der sich persönliche übergriffe zu schulden kommen läſst,<lb/> wie sie die Athener schwerlich ohne grund den machthabern in monarchisch<lb/> und oligarchisch regirten staaten vorrücken, insbesondere ehrenkränkungen<lb/> anderer bürger, vor gericht ziehen <note place="foot" n="30)">Vgl. was im capitel 7 über die γϱαφαὶ ὕβϱεως μοιχείας u. dgl. aus-<lb/> geführt ist.</note>. das <hi rendition="#i">ius intercedendi</hi> ist keine<lb/> phrase, aber es ist nicht nur nicht gesetzlich formulirt, es ist auch als<lb/> ein allgemeines grundrecht nur durch eine starke übertreibung aus dem<lb/> geltenden rechte zu abstrahiren. und mit Solon läſst es sich vollends<lb/> nur so zusammenbringen, daſs er als der urheber der attischen institutionen<lb/> anerkannt wird, die es implicite enthalten. der nachweis würde nicht leicht<lb/> sein, jedenfalls aber würde Aristoteles die sache nicht ohne jedes wort<lb/> der erläuterung oder begründung hingestellt haben, wenn er diese abstrac-<lb/> tion erst selbst vorgenommen hätte. das hat er nicht. denn bei Plutarch 18<lb/> schlieſst sich an die darstellung über die vier classen, die mit der aristo-<lb/> telischen parallel geht und den theten, genau wie Aristoteles, lediglich<lb/> das recht der teilnahme an volksversammlung und gericht zuweist, sofort<lb/> eine ganz ähnliche beurteilung des gerichtes <note place="foot" n="31)">Plutarch (18, 4) schiebt von sich aus recht ungeschickt die verse δ<gap unit="chars" quantity="1"/>μῳ μὲν γὰϱ<lb/> ἔδωκα hier ein, gleich als ob in ihnen Solon die demokratie als sein werk bezeichnete.<lb/> er hat zweierlei zusammengeworfen, daſs Solon durch die gerichte stifter der demo-<lb/> kratie geworden ist, das ist das urteil der nachwelt, und daſs er der demokratie<lb/> nur das unerlässliche hat geben wollen, das sagt sein vers. das lieſs sich<lb/> höchstens zu einem gegensatze verwerten, wie es Aristoteles in der Politik getan<lb/> hat: so wie es bei Plutarch steht, ist es ein hübsches citat am falschen flecke.<lb/> so etwas hat er oft genug in allen schriften gemacht. wer sich bemüht, fehlende<lb/> mittelglieder zu suppliren, oder in einer praesumirten quelle den zusammenhang,<lb/> der hier fehlt, zu suchen, vergiſst, daſs auch Plutarch zunächst als Plutarch inter-<lb/> pretirt werden muſs.</note> und des rechtes, daſs<lb/> jeder für jeden eintreten dürfe, dieses mit breiterer begründung aus der<lb/> volksfreundlichen tendenz Solons, die sich zu einem apophthegma ver-<lb/> dichtet hat. dagegen fehlt die aufhebung der schuldknechtschaft bei ihm:<lb/> deren rechte würdigung ist eben ein besonderes verdienst des Aristoteles;<lb/> ebenso die schöne und gerechte abwehr der böswilligen insinuationen,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [61/0075]
Die kritik der verfassung.
recht anmaſst, verklagen. er kann sich durch ein bittgesuch bei dem volke,
das dafür eine bestimmte versammlung angesetzt hat, die freiheit erwirken,
vor dem volke alles was er gerade will vorzubringen. er kann durch die ver-
schiedenen formen der denuntiation (εἰσαγγελία πϱοβολή φάσις ἔνδειξις,
εἰσαγγελία)
vergehen, die ein öffentliches interesse verletzen, insbesondere
amtsvergehen, vor das volk oder den rat bringen. er kann auch den ein-
zelnen bürger, der sich persönliche übergriffe zu schulden kommen läſst,
wie sie die Athener schwerlich ohne grund den machthabern in monarchisch
und oligarchisch regirten staaten vorrücken, insbesondere ehrenkränkungen
anderer bürger, vor gericht ziehen 30). das ius intercedendi ist keine
phrase, aber es ist nicht nur nicht gesetzlich formulirt, es ist auch als
ein allgemeines grundrecht nur durch eine starke übertreibung aus dem
geltenden rechte zu abstrahiren. und mit Solon läſst es sich vollends
nur so zusammenbringen, daſs er als der urheber der attischen institutionen
anerkannt wird, die es implicite enthalten. der nachweis würde nicht leicht
sein, jedenfalls aber würde Aristoteles die sache nicht ohne jedes wort
der erläuterung oder begründung hingestellt haben, wenn er diese abstrac-
tion erst selbst vorgenommen hätte. das hat er nicht. denn bei Plutarch 18
schlieſst sich an die darstellung über die vier classen, die mit der aristo-
telischen parallel geht und den theten, genau wie Aristoteles, lediglich
das recht der teilnahme an volksversammlung und gericht zuweist, sofort
eine ganz ähnliche beurteilung des gerichtes 31) und des rechtes, daſs
jeder für jeden eintreten dürfe, dieses mit breiterer begründung aus der
volksfreundlichen tendenz Solons, die sich zu einem apophthegma ver-
dichtet hat. dagegen fehlt die aufhebung der schuldknechtschaft bei ihm:
deren rechte würdigung ist eben ein besonderes verdienst des Aristoteles;
ebenso die schöne und gerechte abwehr der böswilligen insinuationen,
30) Vgl. was im capitel 7 über die γϱαφαὶ ὕβϱεως μοιχείας u. dgl. aus-
geführt ist.
31) Plutarch (18, 4) schiebt von sich aus recht ungeschickt die verse δ_μῳ μὲν γὰϱ
ἔδωκα hier ein, gleich als ob in ihnen Solon die demokratie als sein werk bezeichnete.
er hat zweierlei zusammengeworfen, daſs Solon durch die gerichte stifter der demo-
kratie geworden ist, das ist das urteil der nachwelt, und daſs er der demokratie
nur das unerlässliche hat geben wollen, das sagt sein vers. das lieſs sich
höchstens zu einem gegensatze verwerten, wie es Aristoteles in der Politik getan
hat: so wie es bei Plutarch steht, ist es ein hübsches citat am falschen flecke.
so etwas hat er oft genug in allen schriften gemacht. wer sich bemüht, fehlende
mittelglieder zu suppliren, oder in einer praesumirten quelle den zusammenhang,
der hier fehlt, zu suchen, vergiſst, daſs auch Plutarch zunächst als Plutarch inter-
pretirt werden muſs.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |