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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
schaften und kämpfen erregte jüngere generation geneigt geworden ist
über die Hellenen und ihre staaten die achseln zu zucken, wie sie es
über die vormärzliche zeit tut, obgleich beide es nicht verdienen. den
sehr notwendigen schritt, von einem energisch festgehaltenen politischen
standpunkte die griechische geschichte zu prüfen, tat ein Engländer,
der nicht nur als solcher die bürgerpflichten kannte, die die selbst-
regierung des volkes verlangt, sondern überhaupt ausserhalb der ge-
lehrten zunft stand. offenbar war er so für das wesentliche seiner
leistung vortrefflich vorbereitet, und es tut ihr wenig abbruch, dass
er kein gelehrter forscher war. G. Grote nahm die überlieferung,
wie sie ihm von den alten historikern und der deutschen gelehr-
samkeit bequem geboten war, brachte von sich einen sehr gesunden
menschenverstand und daneben einen unbedingten glauben an die doctrin
des liberalismus mit und mass daran die griechische geschichte, die er
nach landesart in wolgefälliger breite nacherzählte. es war ein plumper
und den Hellenen selbst fremder massstab, aber es war doch einer.
weder die empfindung für das individuelle, ohne die sich selbst die
dichter, die doch sagen können, was sie leiden und verlangen, dem ver-
ständnis entziehen, noch die empfindung für das allgemeine, die allein
in der welt der sage, der religion und des rechtes zu atmen ermöglicht,
war ihm gegeben; aber er besass, ganz naiv und daher niemals un-
liebenswürdig, trotzdem die kühnheit sich über alles dieses, selbst über
die götter und über Homer und Platon weitläuftig zu verbreiten. dass
selbst diese in wahrheit gänzlich ungenügenden teile, in Deutschland
zumal, zwar kaum auf die wissenschaft einfluss erhielten, aber im publicum,
das sich damals noch für die hellenischen dinge interessirte, weite ver-
breitung fanden, lag daran, dass sich auch diese gebiete dem politischen
sinne unterordneten, von dem aus das publicum mit recht geschichte
beurteilt wissen will. wirklichen wert hat fast nur die geschichte der
athenischen demokratie, deshalb weil sie hier als das erscheint was sie
ist, das rückgrat der griechischen geschichte. es war die rettung, die
rehabilitirung dieser demokratie ziemlich in allen stücken und in allen
zeiten. demzufolge ward auch eine entwickelung der verfassung ge-
geben, mit gewalttätiger hand, radikal und im feineren sinne unhistorisch,
wie dieser liberalismus vorzugehn pflegt. gerade in der unerschrockenen
consequenz lag der fortschritt. und niemand darf leugnen, dass gegen-
über der minder von Plutarch als von Cornelius Nepos eingegebenen
klage über den undankbaren demos und überhaupt der platt morali-
sirenden manier, aber auch gegenüber der vorstellung von einem

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
schaften und kämpfen erregte jüngere generation geneigt geworden ist
über die Hellenen und ihre staaten die achseln zu zucken, wie sie es
über die vormärzliche zeit tut, obgleich beide es nicht verdienen. den
sehr notwendigen schritt, von einem energisch festgehaltenen politischen
standpunkte die griechische geschichte zu prüfen, tat ein Engländer,
der nicht nur als solcher die bürgerpflichten kannte, die die selbst-
regierung des volkes verlangt, sondern überhaupt auſserhalb der ge-
lehrten zunft stand. offenbar war er so für das wesentliche seiner
leistung vortrefflich vorbereitet, und es tut ihr wenig abbruch, daſs
er kein gelehrter forscher war. G. Grote nahm die überlieferung,
wie sie ihm von den alten historikern und der deutschen gelehr-
samkeit bequem geboten war, brachte von sich einen sehr gesunden
menschenverstand und daneben einen unbedingten glauben an die doctrin
des liberalismus mit und maſs daran die griechische geschichte, die er
nach landesart in wolgefälliger breite nacherzählte. es war ein plumper
und den Hellenen selbst fremder maſsstab, aber es war doch einer.
weder die empfindung für das individuelle, ohne die sich selbst die
dichter, die doch sagen können, was sie leiden und verlangen, dem ver-
ständnis entziehen, noch die empfindung für das allgemeine, die allein
in der welt der sage, der religion und des rechtes zu atmen ermöglicht,
war ihm gegeben; aber er besaſs, ganz naiv und daher niemals un-
liebenswürdig, trotzdem die kühnheit sich über alles dieses, selbst über
die götter und über Homer und Platon weitläuftig zu verbreiten. daſs
selbst diese in wahrheit gänzlich ungenügenden teile, in Deutschland
zumal, zwar kaum auf die wissenschaft einfluſs erhielten, aber im publicum,
das sich damals noch für die hellenischen dinge interessirte, weite ver-
breitung fanden, lag daran, daſs sich auch diese gebiete dem politischen
sinne unterordneten, von dem aus das publicum mit recht geschichte
beurteilt wissen will. wirklichen wert hat fast nur die geschichte der
athenischen demokratie, deshalb weil sie hier als das erscheint was sie
ist, das rückgrat der griechischen geschichte. es war die rettung, die
rehabilitirung dieser demokratie ziemlich in allen stücken und in allen
zeiten. demzufolge ward auch eine entwickelung der verfassung ge-
geben, mit gewalttätiger hand, radikal und im feineren sinne unhistorisch,
wie dieser liberalismus vorzugehn pflegt. gerade in der unerschrockenen
consequenz lag der fortschritt. und niemand darf leugnen, daſs gegen-
über der minder von Plutarch als von Cornelius Nepos eingegebenen
klage über den undankbaren demos und überhaupt der platt morali-
sirenden manier, aber auch gegenüber der vorstellung von einem

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[378/0392] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. schaften und kämpfen erregte jüngere generation geneigt geworden ist über die Hellenen und ihre staaten die achseln zu zucken, wie sie es über die vormärzliche zeit tut, obgleich beide es nicht verdienen. den sehr notwendigen schritt, von einem energisch festgehaltenen politischen standpunkte die griechische geschichte zu prüfen, tat ein Engländer, der nicht nur als solcher die bürgerpflichten kannte, die die selbst- regierung des volkes verlangt, sondern überhaupt auſserhalb der ge- lehrten zunft stand. offenbar war er so für das wesentliche seiner leistung vortrefflich vorbereitet, und es tut ihr wenig abbruch, daſs er kein gelehrter forscher war. G. Grote nahm die überlieferung, wie sie ihm von den alten historikern und der deutschen gelehr- samkeit bequem geboten war, brachte von sich einen sehr gesunden menschenverstand und daneben einen unbedingten glauben an die doctrin des liberalismus mit und maſs daran die griechische geschichte, die er nach landesart in wolgefälliger breite nacherzählte. es war ein plumper und den Hellenen selbst fremder maſsstab, aber es war doch einer. weder die empfindung für das individuelle, ohne die sich selbst die dichter, die doch sagen können, was sie leiden und verlangen, dem ver- ständnis entziehen, noch die empfindung für das allgemeine, die allein in der welt der sage, der religion und des rechtes zu atmen ermöglicht, war ihm gegeben; aber er besaſs, ganz naiv und daher niemals un- liebenswürdig, trotzdem die kühnheit sich über alles dieses, selbst über die götter und über Homer und Platon weitläuftig zu verbreiten. daſs selbst diese in wahrheit gänzlich ungenügenden teile, in Deutschland zumal, zwar kaum auf die wissenschaft einfluſs erhielten, aber im publicum, das sich damals noch für die hellenischen dinge interessirte, weite ver- breitung fanden, lag daran, daſs sich auch diese gebiete dem politischen sinne unterordneten, von dem aus das publicum mit recht geschichte beurteilt wissen will. wirklichen wert hat fast nur die geschichte der athenischen demokratie, deshalb weil sie hier als das erscheint was sie ist, das rückgrat der griechischen geschichte. es war die rettung, die rehabilitirung dieser demokratie ziemlich in allen stücken und in allen zeiten. demzufolge ward auch eine entwickelung der verfassung ge- geben, mit gewalttätiger hand, radikal und im feineren sinne unhistorisch, wie dieser liberalismus vorzugehn pflegt. gerade in der unerschrockenen consequenz lag der fortschritt. und niemand darf leugnen, daſs gegen- über der minder von Plutarch als von Cornelius Nepos eingegebenen klage über den undankbaren demos und überhaupt der platt morali- sirenden manier, aber auch gegenüber der vorstellung von einem

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/392>, abgerufen am 25.11.2024.