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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
Platons person wahr gemacht. wenn Apollon geschwankt hatte, als
Lykurgos sein haus betrat, ob er ihn als gott oder menschen begrüssen
sollte, wenn Platon seinem sterbenden meister den besitz des vollen,
auf dem frieden mit gott und dem eigenen gewissen beruhenden glückes
zugesprochen hatte, so schaute der junge Aristoteles zu Platon in der
tat als zu einem gotte auf.21) damit hatte er auch für sein eigenes leben
den inhalt und das ziel gefunden: der inhalt eitel arbeit und mühe für
die wissenschaft, das ziel die wonne, das ewige anzuschauen und das gött-
liche in der eigenen seele frei und mächtig werden zu lassen. selbst
Platon hat für die würde des theoretikos bios keine eindringlicheren
worte heiliger begeisterung gefunden als Aristoteles am schlusse der
Ethik: die peithanagke des unwiderleglichen logikers erreicht dasselbe
wie das hehre dichterwort des propheten. sie würden es aber beide nicht
erreichen, wenn wir nicht die guten und grossen menschen darin zu
uns reden hörten, die also gelebt, entsagungsvoll gearbeitet haben und
glücklich geworden sind. doch dies unser wort sagt zu viel und zu
wenig: eudaimones sind sie geworden, obwol die eutukhia ihnen in vielem
gefehlt hat.

Als Aristoteles sich für die wissenschaft entschied und in den verein
des Platon eintrat, entschied er für sein leben. mit plänen, wie sie
sein vormund etwa gehabt haben mochte, mit einem leben voll ansehn
macht ehren reichtum und genüssen, wie es die welt suchte und Iso-
krates es allein begriff, hatte er gebrochen. er hatte am scheidewege ge-
standen und sich für den schmalen pfad entschieden. das hat er, der
verständige, mit dem vollsten bewusstsein seines schrittes getan, und in
einer seiner jugendschriften hat er davon rechenschaft gegeben. ist es
doch das schöne recht des jünglings, für das ideal, das er sich gewählt
hat, zu werben: so schrieb denn Aristoteles seinen 'Mahnruf zur wissen-
schaft', seinen protreptikos eis philosophian. dies buch zu lesen
sehnt sich am meisten, wer zu Aristoteles ein persönliches verhältnis
gewonnen hat: hier redete hinreissend der apostel des platonischen gottes-
reiches. und die unvergänglichen gedanken haben ihre macht trotz allen
metamorphosen der worte bewiesen an den verschiedensten menschen-
seelen.

Als Marcus Cicero die unzulänglichkeit des philotimos bios fühlte
und sein warmes und edeles herz an der rhetorik kein genüge mehr
fand, da hat er dem worte willig sein ohr geliehen, das ihn zu höherem

21) Vgl. die beilage 'die gedichte des Aristoteles'.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
Platons person wahr gemacht. wenn Apollon geschwankt hatte, als
Lykurgos sein haus betrat, ob er ihn als gott oder menschen begrüſsen
sollte, wenn Platon seinem sterbenden meister den besitz des vollen,
auf dem frieden mit gott und dem eigenen gewissen beruhenden glückes
zugesprochen hatte, so schaute der junge Aristoteles zu Platon in der
tat als zu einem gotte auf.21) damit hatte er auch für sein eigenes leben
den inhalt und das ziel gefunden: der inhalt eitel arbeit und mühe für
die wissenschaft, das ziel die wonne, das ewige anzuschauen und das gött-
liche in der eigenen seele frei und mächtig werden zu lassen. selbst
Platon hat für die würde des ϑεωϱητικὸς βίος keine eindringlicheren
worte heiliger begeisterung gefunden als Aristoteles am schlusse der
Ethik: die πειϑανάγκη des unwiderleglichen logikers erreicht dasselbe
wie das hehre dichterwort des propheten. sie würden es aber beide nicht
erreichen, wenn wir nicht die guten und groſsen menschen darin zu
uns reden hörten, die also gelebt, entsagungsvoll gearbeitet haben und
glücklich geworden sind. doch dies unser wort sagt zu viel und zu
wenig: εὐδαίμονες sind sie geworden, obwol die εὐτυχία ihnen in vielem
gefehlt hat.

Als Aristoteles sich für die wissenschaft entschied und in den verein
des Platon eintrat, entschied er für sein leben. mit plänen, wie sie
sein vormund etwa gehabt haben mochte, mit einem leben voll ansehn
macht ehren reichtum und genüssen, wie es die welt suchte und Iso-
krates es allein begriff, hatte er gebrochen. er hatte am scheidewege ge-
standen und sich für den schmalen pfad entschieden. das hat er, der
verständige, mit dem vollsten bewuſstsein seines schrittes getan, und in
einer seiner jugendschriften hat er davon rechenschaft gegeben. ist es
doch das schöne recht des jünglings, für das ideal, das er sich gewählt
hat, zu werben: so schrieb denn Aristoteles seinen ‘Mahnruf zur wissen-
schaft’, seinen πϱοτϱεπτικὸς εἰς φιλοσοφίαν. dies buch zu lesen
sehnt sich am meisten, wer zu Aristoteles ein persönliches verhältnis
gewonnen hat: hier redete hinreiſsend der apostel des platonischen gottes-
reiches. und die unvergänglichen gedanken haben ihre macht trotz allen
metamorphosen der worte bewiesen an den verschiedensten menschen-
seelen.

Als Marcus Cicero die unzulänglichkeit des φιλότιμος βίος fühlte
und sein warmes und edeles herz an der rhetorik kein genüge mehr
fand, da hat er dem worte willig sein ohr geliehen, das ihn zu höherem

21) Vgl. die beilage ‘die gedichte des Aristoteles’.
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[326/0340] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. Platons person wahr gemacht. wenn Apollon geschwankt hatte, als Lykurgos sein haus betrat, ob er ihn als gott oder menschen begrüſsen sollte, wenn Platon seinem sterbenden meister den besitz des vollen, auf dem frieden mit gott und dem eigenen gewissen beruhenden glückes zugesprochen hatte, so schaute der junge Aristoteles zu Platon in der tat als zu einem gotte auf. 21) damit hatte er auch für sein eigenes leben den inhalt und das ziel gefunden: der inhalt eitel arbeit und mühe für die wissenschaft, das ziel die wonne, das ewige anzuschauen und das gött- liche in der eigenen seele frei und mächtig werden zu lassen. selbst Platon hat für die würde des ϑεωϱητικὸς βίος keine eindringlicheren worte heiliger begeisterung gefunden als Aristoteles am schlusse der Ethik: die πειϑανάγκη des unwiderleglichen logikers erreicht dasselbe wie das hehre dichterwort des propheten. sie würden es aber beide nicht erreichen, wenn wir nicht die guten und groſsen menschen darin zu uns reden hörten, die also gelebt, entsagungsvoll gearbeitet haben und glücklich geworden sind. doch dies unser wort sagt zu viel und zu wenig: εὐδαίμονες sind sie geworden, obwol die εὐτυχία ihnen in vielem gefehlt hat. Als Aristoteles sich für die wissenschaft entschied und in den verein des Platon eintrat, entschied er für sein leben. mit plänen, wie sie sein vormund etwa gehabt haben mochte, mit einem leben voll ansehn macht ehren reichtum und genüssen, wie es die welt suchte und Iso- krates es allein begriff, hatte er gebrochen. er hatte am scheidewege ge- standen und sich für den schmalen pfad entschieden. das hat er, der verständige, mit dem vollsten bewuſstsein seines schrittes getan, und in einer seiner jugendschriften hat er davon rechenschaft gegeben. ist es doch das schöne recht des jünglings, für das ideal, das er sich gewählt hat, zu werben: so schrieb denn Aristoteles seinen ‘Mahnruf zur wissen- schaft’, seinen πϱοτϱεπτικὸς εἰς φιλοσοφίαν. dies buch zu lesen sehnt sich am meisten, wer zu Aristoteles ein persönliches verhältnis gewonnen hat: hier redete hinreiſsend der apostel des platonischen gottes- reiches. und die unvergänglichen gedanken haben ihre macht trotz allen metamorphosen der worte bewiesen an den verschiedensten menschen- seelen. Als Marcus Cicero die unzulänglichkeit des φιλότιμος βίος fühlte und sein warmes und edeles herz an der rhetorik kein genüge mehr fand, da hat er dem worte willig sein ohr geliehen, das ihn zu höherem 21) Vgl. die beilage ‘die gedichte des Aristoteles’.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/340>, abgerufen am 23.11.2024.