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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
Hellenen makedonisch, und obwol nicht nur der adel dieses volkes sich
rasch hellenisirte, so dass es eine makedonische schrift- und geschäfts-
sprache gar nicht gab, so sahen die Hellenen und vollends die näch-
sten nachbarn in den kriegerischen und ihrer nationalität frohen Make-
donen ein fremdes volk. Aristoteles ist zu nah an Makedonien aufge-
wachsen, um nicht die vorurteile mit der muttermilch einzusaugen, die
eine höher civilisirte bevölkerung von älterer cultur doppelt stark gegen
den nachbar nährt, wenn dessen frischere und rohere volkskraft sich ihrer
materiellen überlegenheit bewusst wird. der vater des Aristoteles, Niko-
machos, ist als leibarzt am hofe des Amyntas II. gewesen. wann und
wo das war, wie nah die beziehungen waren, sind wir ausser stande
zu schätzen.6) als der sohn des Nikomachos von dem sohne des Amyntas
berufen ward und dem rufe folgte, wird dieser präcedenzfall so oder so
mitgespielt haben. allein jene berufung ist auch ohne ihn sehr erklär-
lich. nicht nach Makedonien, sondern nach Stagira gehört die jugend
des Aristoteles. seines vaters gedenkt weder er in seinem testamente,
noch wissen seine biographen mehr von ihm zu erzählen, wol aber dass
nicht er die erziehung des sohnes bestimmt und dessen dank geerntet
hat. auch dieser grosse mann hat nichts erkennbares von seinem vater
an sich. das Makedonien aber, das er in seiner knabenzeit sehen
konnte, war von allen greueln der barbarenhöfe und der bürgerkriege
verwüstet. er hat höchstens eine so starke aversion dagegen mit in
das leben genommen, dass er später die unvergleichliche gelegenheit
versäumt hat, einblick in den staat und das volksleben Makedoniens
zu tun.

Kindheit.Nach dem herkommen der Asklepiaden hätte Aristoteles zum arzt
ausgebildet werden sollen; da wäre das erste die handwerksmässige an-
leitung in der klinik (dem ietreion) des vaters gewesen, wo denn die
handreichungen und dienste des gehilfen, auch das 'pillendrehen' (phar-
maka tribein) für ihn eben so wenig entwürdigend sein konnten, wie
für seinen heroischen ahn Machaon, den assistenten (uperetes) seines
vaters Asklepios. es war für einen Hellenen so selbstverständlich, dass
der sohn des arztes dem vater folgte und zur hand gieng, dass Epikuros
und Timaios nur mit gehässiger übertreibung ihn 'eine apotheke halten'

6) Dass der knabe Aristoteles am hofe geboren und erzogen wäre, ist eine
willkürliche folgerung der modernen. wenn er vorsichtig war, brachte Nikomachos
wenigstens ende der achtziger jahre frau und kind nicht nach Pella, oder wo
sonst Amyntas wohnte, was kein mensch sagen kann.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
Hellenen makedonisch, und obwol nicht nur der adel dieses volkes sich
rasch hellenisirte, so daſs es eine makedonische schrift- und geschäfts-
sprache gar nicht gab, so sahen die Hellenen und vollends die näch-
sten nachbarn in den kriegerischen und ihrer nationalität frohen Make-
donen ein fremdes volk. Aristoteles ist zu nah an Makedonien aufge-
wachsen, um nicht die vorurteile mit der muttermilch einzusaugen, die
eine höher civilisirte bevölkerung von älterer cultur doppelt stark gegen
den nachbar nährt, wenn dessen frischere und rohere volkskraft sich ihrer
materiellen überlegenheit bewuſst wird. der vater des Aristoteles, Niko-
machos, ist als leibarzt am hofe des Amyntas II. gewesen. wann und
wo das war, wie nah die beziehungen waren, sind wir auſser stande
zu schätzen.6) als der sohn des Nikomachos von dem sohne des Amyntas
berufen ward und dem rufe folgte, wird dieser präcedenzfall so oder so
mitgespielt haben. allein jene berufung ist auch ohne ihn sehr erklär-
lich. nicht nach Makedonien, sondern nach Stagira gehört die jugend
des Aristoteles. seines vaters gedenkt weder er in seinem testamente,
noch wissen seine biographen mehr von ihm zu erzählen, wol aber daſs
nicht er die erziehung des sohnes bestimmt und dessen dank geerntet
hat. auch dieser groſse mann hat nichts erkennbares von seinem vater
an sich. das Makedonien aber, das er in seiner knabenzeit sehen
konnte, war von allen greueln der barbarenhöfe und der bürgerkriege
verwüstet. er hat höchstens eine so starke aversion dagegen mit in
das leben genommen, daſs er später die unvergleichliche gelegenheit
versäumt hat, einblick in den staat und das volksleben Makedoniens
zu tun.

Kindheit.Nach dem herkommen der Asklepiaden hätte Aristoteles zum arzt
ausgebildet werden sollen; da wäre das erste die handwerksmäſsige an-
leitung in der klinik (dem ἰητϱεῖον) des vaters gewesen, wo denn die
handreichungen und dienste des gehilfen, auch das ‘pillendrehen’ (φάϱ-
μακα τϱίβειν) für ihn eben so wenig entwürdigend sein konnten, wie
für seinen heroischen ahn Machaon, den assistenten (ὑπηϱέτης) seines
vaters Asklepios. es war für einen Hellenen so selbstverständlich, daſs
der sohn des arztes dem vater folgte und zur hand gieng, daſs Epikuros
und Timaios nur mit gehässiger übertreibung ihn ‘eine apotheke halten’

6) Daſs der knabe Aristoteles am hofe geboren und erzogen wäre, ist eine
willkürliche folgerung der modernen. wenn er vorsichtig war, brachte Nikomachos
wenigstens ende der achtziger jahre frau und kind nicht nach Pella, oder wo
sonst Amyntas wohnte, was kein mensch sagen kann.
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[314/0328] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. Hellenen makedonisch, und obwol nicht nur der adel dieses volkes sich rasch hellenisirte, so daſs es eine makedonische schrift- und geschäfts- sprache gar nicht gab, so sahen die Hellenen und vollends die näch- sten nachbarn in den kriegerischen und ihrer nationalität frohen Make- donen ein fremdes volk. Aristoteles ist zu nah an Makedonien aufge- wachsen, um nicht die vorurteile mit der muttermilch einzusaugen, die eine höher civilisirte bevölkerung von älterer cultur doppelt stark gegen den nachbar nährt, wenn dessen frischere und rohere volkskraft sich ihrer materiellen überlegenheit bewuſst wird. der vater des Aristoteles, Niko- machos, ist als leibarzt am hofe des Amyntas II. gewesen. wann und wo das war, wie nah die beziehungen waren, sind wir auſser stande zu schätzen. 6) als der sohn des Nikomachos von dem sohne des Amyntas berufen ward und dem rufe folgte, wird dieser präcedenzfall so oder so mitgespielt haben. allein jene berufung ist auch ohne ihn sehr erklär- lich. nicht nach Makedonien, sondern nach Stagira gehört die jugend des Aristoteles. seines vaters gedenkt weder er in seinem testamente, noch wissen seine biographen mehr von ihm zu erzählen, wol aber daſs nicht er die erziehung des sohnes bestimmt und dessen dank geerntet hat. auch dieser groſse mann hat nichts erkennbares von seinem vater an sich. das Makedonien aber, das er in seiner knabenzeit sehen konnte, war von allen greueln der barbarenhöfe und der bürgerkriege verwüstet. er hat höchstens eine so starke aversion dagegen mit in das leben genommen, daſs er später die unvergleichliche gelegenheit versäumt hat, einblick in den staat und das volksleben Makedoniens zu tun. Nach dem herkommen der Asklepiaden hätte Aristoteles zum arzt ausgebildet werden sollen; da wäre das erste die handwerksmäſsige an- leitung in der klinik (dem ἰητϱεῖον) des vaters gewesen, wo denn die handreichungen und dienste des gehilfen, auch das ‘pillendrehen’ (φάϱ- μακα τϱίβειν) für ihn eben so wenig entwürdigend sein konnten, wie für seinen heroischen ahn Machaon, den assistenten (ὑπηϱέτης) seines vaters Asklepios. es war für einen Hellenen so selbstverständlich, daſs der sohn des arztes dem vater folgte und zur hand gieng, daſs Epikuros und Timaios nur mit gehässiger übertreibung ihn ‘eine apotheke halten’ Kindheit. 6) Daſs der knabe Aristoteles am hofe geboren und erzogen wäre, ist eine willkürliche folgerung der modernen. wenn er vorsichtig war, brachte Nikomachos wenigstens ende der achtziger jahre frau und kind nicht nach Pella, oder wo sonst Amyntas wohnte, was kein mensch sagen kann.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/328>, abgerufen am 24.11.2024.