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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Leben des Aristoteles. herkunft und heimat.
abwendig gemacht, und sie blieb selbständig, während Stagiros, das dem
abfalle gefolgt war, sich wieder fügen musste. aber auch für Amphi-
polis war die freiheit mit der ohnmacht identisch. die abneigung gegen
die athenische herrschaft war in den städten der Chalkidike vielleicht
besonders kurzsichtig, sicherlich aber besonders stark gewesen. als sie
von ihr loskamen, versuchten sie notgedrungen eine art von staaten-
bund zu gründen, in dem Olynthos die führerrolle zufiel; aber Spartas
intervention trat ihnen herrisch entgegen, und einen wirklichen bundes-
staat hat Olynthos selbst in den bescheidenen grenzen, die die Chal-
kidike verstattete, nie erzielt. die einzelnen gemeinden werden in ihren
verfassungen nur spielarten desselben typus dargestellt haben; ihr recht
führt Aristoteles selbst auf einen alten gesetzgeber Androdamas von
Rhegion zurück4); auch ihre sprache wird sich zu einem gemeinsamen
dialekte, einem ionisch von euboeischem oder auch nesiotischem typus
abgeschliffen haben: sie waren doch als einzelne staatswesen unfähig zum
leben, ermangelnd der autarkeia, in der einst Aristoteles die haupt-
bedingung des staates sehen sollte, unfähig aber gleichermassen zu dem
entschlusse, sich zusammenzuschliessen oder unterzuordnen. wir können
nicht anders sagen, als sie warteten auf einen herren, und werden be-
dauern, dass Athen es nicht verstanden hat, dieser herr zu bleiben. der
knabe, der 384/35) in Stagira geboren ward, wuchs unter den vorur-
teilen dieser chalkidischen verkommenden kleinstaaterei auf. den verfall
musste er sehen; wenn sie ihm aber von älteren besseren zeiten erzählten,
so waren die Athener und ihr reich nicht die woltäter, denen man jene
zeiten dankte, sondern die väter alles übels. abneigung und argwohn
gegen Athen, furcht hass und widerstand, als die flotten des zweiten
seebundes in jene gewässer kamen, hat er in seiner heimat allein sehen
können.

Die thrakische bevölkerung nicht nur auf der Chalkidike selbst,
sondern überhaupt landeinwärts zwischen den flusstälern des Axios und
Strymon besass kein kräftiges volkstum mehr; vermutlich war sie
schon so gut wie ganz verschwunden, aufgesogen hier von den Hellenen,
dort von den Makedonen. schon erschien das ganze hinterland den

4) Politik B ende, vgl. oben s. 67.
5) Seine geburt ist nicht weiter datirbar als auf den archon Diotrephes. die
künste, durch rechnungen mit ordinal- und cardinalzahlen den geburtstag auf eine
jahreshälfte zu beschränken, verkennen, dass Apollodor nur mit attischen jahren,
deren jedes einer viertelolympiade gleichgesetzt ist, rechnen konnte und ge-
rechnet hat. und auch seine data waren ihm in keiner anderen rechnung gegeben.

Leben des Aristoteles. herkunft und heimat.
abwendig gemacht, und sie blieb selbständig, während Stagiros, das dem
abfalle gefolgt war, sich wieder fügen muſste. aber auch für Amphi-
polis war die freiheit mit der ohnmacht identisch. die abneigung gegen
die athenische herrschaft war in den städten der Chalkidike vielleicht
besonders kurzsichtig, sicherlich aber besonders stark gewesen. als sie
von ihr loskamen, versuchten sie notgedrungen eine art von staaten-
bund zu gründen, in dem Olynthos die führerrolle zufiel; aber Spartas
intervention trat ihnen herrisch entgegen, und einen wirklichen bundes-
staat hat Olynthos selbst in den bescheidenen grenzen, die die Chal-
kidike verstattete, nie erzielt. die einzelnen gemeinden werden in ihren
verfassungen nur spielarten desselben typus dargestellt haben; ihr recht
führt Aristoteles selbst auf einen alten gesetzgeber Androdamas von
Rhegion zurück4); auch ihre sprache wird sich zu einem gemeinsamen
dialekte, einem ionisch von euboeischem oder auch nesiotischem typus
abgeschliffen haben: sie waren doch als einzelne staatswesen unfähig zum
leben, ermangelnd der αὐτάϱκεια, in der einst Aristoteles die haupt-
bedingung des staates sehen sollte, unfähig aber gleichermaſsen zu dem
entschlusse, sich zusammenzuschlieſsen oder unterzuordnen. wir können
nicht anders sagen, als sie warteten auf einen herren, und werden be-
dauern, daſs Athen es nicht verstanden hat, dieser herr zu bleiben. der
knabe, der 384/35) in Stagira geboren ward, wuchs unter den vorur-
teilen dieser chalkidischen verkommenden kleinstaaterei auf. den verfall
muſste er sehen; wenn sie ihm aber von älteren besseren zeiten erzählten,
so waren die Athener und ihr reich nicht die woltäter, denen man jene
zeiten dankte, sondern die väter alles übels. abneigung und argwohn
gegen Athen, furcht haſs und widerstand, als die flotten des zweiten
seebundes in jene gewässer kamen, hat er in seiner heimat allein sehen
können.

Die thrakische bevölkerung nicht nur auf der Chalkidike selbst,
sondern überhaupt landeinwärts zwischen den fluſstälern des Axios und
Strymon besaſs kein kräftiges volkstum mehr; vermutlich war sie
schon so gut wie ganz verschwunden, aufgesogen hier von den Hellenen,
dort von den Makedonen. schon erschien das ganze hinterland den

4) Politik B ende, vgl. oben s. 67.
5) Seine geburt ist nicht weiter datirbar als auf den archon Diotrephes. die
künste, durch rechnungen mit ordinal- und cardinalzahlen den geburtstag auf eine
jahreshälfte zu beschränken, verkennen, daſs Apollodor nur mit attischen jahren,
deren jedes einer viertelolympiade gleichgesetzt ist, rechnen konnte und ge-
rechnet hat. und auch seine data waren ihm in keiner anderen rechnung gegeben.
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[313/0327] Leben des Aristoteles. herkunft und heimat. abwendig gemacht, und sie blieb selbständig, während Stagiros, das dem abfalle gefolgt war, sich wieder fügen muſste. aber auch für Amphi- polis war die freiheit mit der ohnmacht identisch. die abneigung gegen die athenische herrschaft war in den städten der Chalkidike vielleicht besonders kurzsichtig, sicherlich aber besonders stark gewesen. als sie von ihr loskamen, versuchten sie notgedrungen eine art von staaten- bund zu gründen, in dem Olynthos die führerrolle zufiel; aber Spartas intervention trat ihnen herrisch entgegen, und einen wirklichen bundes- staat hat Olynthos selbst in den bescheidenen grenzen, die die Chal- kidike verstattete, nie erzielt. die einzelnen gemeinden werden in ihren verfassungen nur spielarten desselben typus dargestellt haben; ihr recht führt Aristoteles selbst auf einen alten gesetzgeber Androdamas von Rhegion zurück 4); auch ihre sprache wird sich zu einem gemeinsamen dialekte, einem ionisch von euboeischem oder auch nesiotischem typus abgeschliffen haben: sie waren doch als einzelne staatswesen unfähig zum leben, ermangelnd der αὐτάϱκεια, in der einst Aristoteles die haupt- bedingung des staates sehen sollte, unfähig aber gleichermaſsen zu dem entschlusse, sich zusammenzuschlieſsen oder unterzuordnen. wir können nicht anders sagen, als sie warteten auf einen herren, und werden be- dauern, daſs Athen es nicht verstanden hat, dieser herr zu bleiben. der knabe, der 384/3 5) in Stagira geboren ward, wuchs unter den vorur- teilen dieser chalkidischen verkommenden kleinstaaterei auf. den verfall muſste er sehen; wenn sie ihm aber von älteren besseren zeiten erzählten, so waren die Athener und ihr reich nicht die woltäter, denen man jene zeiten dankte, sondern die väter alles übels. abneigung und argwohn gegen Athen, furcht haſs und widerstand, als die flotten des zweiten seebundes in jene gewässer kamen, hat er in seiner heimat allein sehen können. Die thrakische bevölkerung nicht nur auf der Chalkidike selbst, sondern überhaupt landeinwärts zwischen den fluſstälern des Axios und Strymon besaſs kein kräftiges volkstum mehr; vermutlich war sie schon so gut wie ganz verschwunden, aufgesogen hier von den Hellenen, dort von den Makedonen. schon erschien das ganze hinterland den 4) Politik B ende, vgl. oben s. 67. 5) Seine geburt ist nicht weiter datirbar als auf den archon Diotrephes. die künste, durch rechnungen mit ordinal- und cardinalzahlen den geburtstag auf eine jahreshälfte zu beschränken, verkennen, daſs Apollodor nur mit attischen jahren, deren jedes einer viertelolympiade gleichgesetzt ist, rechnen konnte und ge- rechnet hat. und auch seine data waren ihm in keiner anderen rechnung gegeben.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/327>, abgerufen am 24.11.2024.