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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die einzelnen Atthidographen.
menschen, wie des Spartiaten Glaukos, der seinen gastfreund betrog,
umfassend. das ist das surrogat für eine delphische chronik. Herodotos
hat aus dieser quelle das herrlichste geschöpft, aber auch Ephoros, oder
wer zuerst die orakel über die westhellenischen gründungen, über Sparta,
ja schon über die dorische wanderung in die litteratur eingeführt hat,
ist im stande gewesen, sehr viel von dort zu nehmen: ein grosser teil
unserer vulgären tradition trägt dieses delphische gepräge. es ist freilich
eine methodelosigkeit sonder gleichen, wenn man den priestern sich
darin unterwirft, dass man den delphischen gott zum herren oder besser
zum pabst von Hellas macht; um sie zu verwerten muss man diesen
geschichten ihre appretur in maiorem dei gloriam auswaschen: aber eine
exegetenüberlieferung, der Atthis analog, ein buch von unschätzbarem
geschichtlichem und poetischem werte, und doch kein edirtes buch, ist
hier vollkommen kenntlich. 35) der attische exeget hatte nicht so weit
über die welt zu blicken und konnte nicht viel für die religiöse er-
bauung tun. um so mehr lieferte er für die vaterländische geschichte.
hinter Apollon steht eine priesterschaft, hinter Athena ein staat.

So erschien denn also in den tagen des Platon und des Isokrates,
die beide schon in sich zu fertig waren, um stark mit ihr zu rechnen,
die erste wirklich attische chronik und erschloss dem publicum eine
reiche fülle ächter überlieferung und anmutiger erzählung und gelehrter
construction: alles ist darin. nur muss man die gelehrsamkeit und die
construction billig nach dem wollen und können der zeit abschätzen.
eine solche forschung, wie ich sie oben allzuliberal den feinden der
echten alten chronik zugestand, die aus den archiven die beamtenlisten

35) Auch der einzelne seher hatte seine sprüche, und die erklärende beigabe,
analog der delphischen, hat nicht gefehlt. die spruchsammlungen von Bakis oder
Musaios mögen bloss als verse in den händen der menschen gewesen sein, bestimmt
oder doch dazu verwandt, je nach bedarf sich immer von neuem zu erfüllen wie
die apokalypsen der Juden und Christen. aber die seher hüteten ihre schätze, von
denen sie lebten, erzählten dagegen gern von ihren kunststücken und heldentaten.
wie viel Herodotos dem Iamiden Teisamenos verdankt, habe ich bei anderer ge-
legenheit gezeigt. hier sei noch eine stelle angeführt. 5, 72 erzählt er, dass die
Athener, als sie Kleomenes von der burg vertrieben, unter andern auch einen
delphischen seher Timasitheos griffen und töteten, "von dem ich die gewaltigsten
leistungen tatkräftigen mutes erzählen könnte". auch in der schlacht von
Pallene (1, 62) spielt ein seher mit seinem spruche eine rolle. die seher, ihre
schicksale und sprüche, sind, wie die dichter und die olympioniken, träger der
wertvollsten, sowol geschichtlichen wie novellistischen überlieferung, schon für
den vater der geschichte und so für uns.

Die einzelnen Atthidographen.
menschen, wie des Spartiaten Glaukos, der seinen gastfreund betrog,
umfassend. das ist das surrogat für eine delphische chronik. Herodotos
hat aus dieser quelle das herrlichste geschöpft, aber auch Ephoros, oder
wer zuerst die orakel über die westhellenischen gründungen, über Sparta,
ja schon über die dorische wanderung in die litteratur eingeführt hat,
ist im stande gewesen, sehr viel von dort zu nehmen: ein groſser teil
unserer vulgären tradition trägt dieses delphische gepräge. es ist freilich
eine methodelosigkeit sonder gleichen, wenn man den priestern sich
darin unterwirft, daſs man den delphischen gott zum herren oder besser
zum pabst von Hellas macht; um sie zu verwerten muſs man diesen
geschichten ihre appretur in maiorem dei gloriam auswaschen: aber eine
exegetenüberlieferung, der Atthis analog, ein buch von unschätzbarem
geschichtlichem und poetischem werte, und doch kein edirtes buch, ist
hier vollkommen kenntlich. 35) der attische exeget hatte nicht so weit
über die welt zu blicken und konnte nicht viel für die religiöse er-
bauung tun. um so mehr lieferte er für die vaterländische geschichte.
hinter Apollon steht eine priesterschaft, hinter Athena ein staat.

So erschien denn also in den tagen des Platon und des Isokrates,
die beide schon in sich zu fertig waren, um stark mit ihr zu rechnen,
die erste wirklich attische chronik und erschloſs dem publicum eine
reiche fülle ächter überlieferung und anmutiger erzählung und gelehrter
construction: alles ist darin. nur muſs man die gelehrsamkeit und die
construction billig nach dem wollen und können der zeit abschätzen.
eine solche forschung, wie ich sie oben allzuliberal den feinden der
echten alten chronik zugestand, die aus den archiven die beamtenlisten

35) Auch der einzelne seher hatte seine sprüche, und die erklärende beigabe,
analog der delphischen, hat nicht gefehlt. die spruchsammlungen von Bakis oder
Musaios mögen bloſs als verse in den händen der menschen gewesen sein, bestimmt
oder doch dazu verwandt, je nach bedarf sich immer von neuem zu erfüllen wie
die apokalypsen der Juden und Christen. aber die seher hüteten ihre schätze, von
denen sie lebten, erzählten dagegen gern von ihren kunststücken und heldentaten.
wie viel Herodotos dem Iamiden Teisamenos verdankt, habe ich bei anderer ge-
legenheit gezeigt. hier sei noch eine stelle angeführt. 5, 72 erzählt er, daſs die
Athener, als sie Kleomenes von der burg vertrieben, unter andern auch einen
delphischen seher Timasitheos griffen und töteten, “von dem ich die gewaltigsten
leistungen tatkräftigen mutes erzählen könnte”. auch in der schlacht von
Pallene (1, 62) spielt ein seher mit seinem spruche eine rolle. die seher, ihre
schicksale und sprüche, sind, wie die dichter und die olympioniken, träger der
wertvollsten, sowol geschichtlichen wie novellistischen überlieferung, schon für
den vater der geschichte und so für uns.
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[285/0299] Die einzelnen Atthidographen. menschen, wie des Spartiaten Glaukos, der seinen gastfreund betrog, umfassend. das ist das surrogat für eine delphische chronik. Herodotos hat aus dieser quelle das herrlichste geschöpft, aber auch Ephoros, oder wer zuerst die orakel über die westhellenischen gründungen, über Sparta, ja schon über die dorische wanderung in die litteratur eingeführt hat, ist im stande gewesen, sehr viel von dort zu nehmen: ein groſser teil unserer vulgären tradition trägt dieses delphische gepräge. es ist freilich eine methodelosigkeit sonder gleichen, wenn man den priestern sich darin unterwirft, daſs man den delphischen gott zum herren oder besser zum pabst von Hellas macht; um sie zu verwerten muſs man diesen geschichten ihre appretur in maiorem dei gloriam auswaschen: aber eine exegetenüberlieferung, der Atthis analog, ein buch von unschätzbarem geschichtlichem und poetischem werte, und doch kein edirtes buch, ist hier vollkommen kenntlich. 35) der attische exeget hatte nicht so weit über die welt zu blicken und konnte nicht viel für die religiöse er- bauung tun. um so mehr lieferte er für die vaterländische geschichte. hinter Apollon steht eine priesterschaft, hinter Athena ein staat. So erschien denn also in den tagen des Platon und des Isokrates, die beide schon in sich zu fertig waren, um stark mit ihr zu rechnen, die erste wirklich attische chronik und erschloſs dem publicum eine reiche fülle ächter überlieferung und anmutiger erzählung und gelehrter construction: alles ist darin. nur muſs man die gelehrsamkeit und die construction billig nach dem wollen und können der zeit abschätzen. eine solche forschung, wie ich sie oben allzuliberal den feinden der echten alten chronik zugestand, die aus den archiven die beamtenlisten 35) Auch der einzelne seher hatte seine sprüche, und die erklärende beigabe, analog der delphischen, hat nicht gefehlt. die spruchsammlungen von Bakis oder Musaios mögen bloſs als verse in den händen der menschen gewesen sein, bestimmt oder doch dazu verwandt, je nach bedarf sich immer von neuem zu erfüllen wie die apokalypsen der Juden und Christen. aber die seher hüteten ihre schätze, von denen sie lebten, erzählten dagegen gern von ihren kunststücken und heldentaten. wie viel Herodotos dem Iamiden Teisamenos verdankt, habe ich bei anderer ge- legenheit gezeigt. hier sei noch eine stelle angeführt. 5, 72 erzählt er, daſs die Athener, als sie Kleomenes von der burg vertrieben, unter andern auch einen delphischen seher Timasitheos griffen und töteten, “von dem ich die gewaltigsten leistungen tatkräftigen mutes erzählen könnte”. auch in der schlacht von Pallene (1, 62) spielt ein seher mit seinem spruche eine rolle. die seher, ihre schicksale und sprüche, sind, wie die dichter und die olympioniken, träger der wertvollsten, sowol geschichtlichen wie novellistischen überlieferung, schon für den vater der geschichte und so für uns.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/299>, abgerufen am 25.11.2024.