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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Der exeget.
digien. er pflegt in seinem bescheide opfer an die grollenden götter
oder daemonen vorzuschreiben; aber es kommen auch wirkliche ge-
wissensfragen vor, wie die von Platon im Euthyphron vom standpunkte
einer überlegenen sittlichkeit beleuchtete. so weist ihn sein geschäft an
die götter und lieben vorfahren, und dass einige kenntnis der vater-
ländischen geschichte erfordert war, leuchtet ein. von da bis zu der
führung einer chronik, zunächst zum gebrauche für sich und die nach-
folger im amte, ist noch ein weiter weg. aber dass es die sorge für
das heilige recht gewesen ist, die auch in Athen zur annalistik geführt
hat, darauf scheint mir sowol die lebensstellung der späteren atthido-
graphen wie die qualität ihrer bücher zu deuten.

Ich habe wenigen, aber wertvollen beifall und vielen widerspruch
und spott, nicht bloss von leuten, wo er mir lieber als beifall ist, ge-
erntet, als ich vor jahren die attische chronik als eine und zwar die
beste quelle der athenischen geschichte hinstellte. damals stand sie noch
völlig im schatten der grossen schriftsteller so ganz anderer art, des
Herodotos und Thukydides. nun hat sich das geändert, denn Aristoteles
bringt sie uns ganz anders nahe, und es wird nicht mehr lange dauern,
bis sie zu den trivialsten tatsachen der 'quellenkunde' gehören wird.
es gibt freilich unter den historikern eine richtung, der alle und jede
griechische annalistische überlieferung ein greuel ist, und mit dieser
muss ich leider auf eine verständigung verzichten. denn ich sehe, wie
überaus bequem es sich ihr consequentester und scharfsinnigster ver-
treter macht, das unbequeme buch des Aristoteles zu beseitigen, damit
der noch viel bequemere glaube bestehen bleibe, dass am anfange Homer
steht, an den sich Herodotos und Thukydides schliessen, neben denen
das übrige so ziemlich schwindel ist. Niese hat die beiden wichtigsten
chroniken des Hellanikos, die von Argos und Athen, einer besprechung
unterzogen, die, wenn ich ihn richtig verstehe, zeigen soll, dass das er-
zeugnisse ihres verfassers waren, nicht anders als das buch des Herodot
diesem gehört, und in ihnen die s. g. mythische zeit sehr ausführlich
auf grund der poeten behandelt war. das sind für Niese wertlose
plasmata ton proteron, die jüngste vergangenheit auf grund münd-
licher erkundigung des verfassers, etwa wie Herodot, zum teil nach
Herodot, alles in eine annalistische form gebracht, auf die Niese nicht
viel zu geben scheint. 33) in der tat ist was wir von Hellanikos haben

33) Für Niese ist überaus wichtig, dass die chronik von Argos bei Hellanikos
specifisch attische dinge berichtet hätte, natürlich weil sonst nichts zu berichten

Der exeget.
digien. er pflegt in seinem bescheide opfer an die grollenden götter
oder daemonen vorzuschreiben; aber es kommen auch wirkliche ge-
wissensfragen vor, wie die von Platon im Euthyphron vom standpunkte
einer überlegenen sittlichkeit beleuchtete. so weist ihn sein geschäft an
die götter und lieben vorfahren, und daſs einige kenntnis der vater-
ländischen geschichte erfordert war, leuchtet ein. von da bis zu der
führung einer chronik, zunächst zum gebrauche für sich und die nach-
folger im amte, ist noch ein weiter weg. aber daſs es die sorge für
das heilige recht gewesen ist, die auch in Athen zur annalistik geführt
hat, darauf scheint mir sowol die lebensstellung der späteren atthido-
graphen wie die qualität ihrer bücher zu deuten.

Ich habe wenigen, aber wertvollen beifall und vielen widerspruch
und spott, nicht bloſs von leuten, wo er mir lieber als beifall ist, ge-
erntet, als ich vor jahren die attische chronik als eine und zwar die
beste quelle der athenischen geschichte hinstellte. damals stand sie noch
völlig im schatten der groſsen schriftsteller so ganz anderer art, des
Herodotos und Thukydides. nun hat sich das geändert, denn Aristoteles
bringt sie uns ganz anders nahe, und es wird nicht mehr lange dauern,
bis sie zu den trivialsten tatsachen der ‘quellenkunde’ gehören wird.
es gibt freilich unter den historikern eine richtung, der alle und jede
griechische annalistische überlieferung ein greuel ist, und mit dieser
muſs ich leider auf eine verständigung verzichten. denn ich sehe, wie
überaus bequem es sich ihr consequentester und scharfsinnigster ver-
treter macht, das unbequeme buch des Aristoteles zu beseitigen, damit
der noch viel bequemere glaube bestehen bleibe, daſs am anfange Homer
steht, an den sich Herodotos und Thukydides schlieſsen, neben denen
das übrige so ziemlich schwindel ist. Niese hat die beiden wichtigsten
chroniken des Hellanikos, die von Argos und Athen, einer besprechung
unterzogen, die, wenn ich ihn richtig verstehe, zeigen soll, daſs das er-
zeugnisse ihres verfassers waren, nicht anders als das buch des Herodot
diesem gehört, und in ihnen die s. g. mythische zeit sehr ausführlich
auf grund der poeten behandelt war. das sind für Niese wertlose
πλάσματα τῶν πϱοτέϱων, die jüngste vergangenheit auf grund münd-
licher erkundigung des verfassers, etwa wie Herodot, zum teil nach
Herodot, alles in eine annalistische form gebracht, auf die Niese nicht
viel zu geben scheint. 33) in der tat ist was wir von Hellanikos haben

33) Für Niese ist überaus wichtig, daſs die chronik von Argos bei Hellanikos
specifisch attische dinge berichtet hätte, natürlich weil sonst nichts zu berichten
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[281/0295] Der exeget. digien. er pflegt in seinem bescheide opfer an die grollenden götter oder daemonen vorzuschreiben; aber es kommen auch wirkliche ge- wissensfragen vor, wie die von Platon im Euthyphron vom standpunkte einer überlegenen sittlichkeit beleuchtete. so weist ihn sein geschäft an die götter und lieben vorfahren, und daſs einige kenntnis der vater- ländischen geschichte erfordert war, leuchtet ein. von da bis zu der führung einer chronik, zunächst zum gebrauche für sich und die nach- folger im amte, ist noch ein weiter weg. aber daſs es die sorge für das heilige recht gewesen ist, die auch in Athen zur annalistik geführt hat, darauf scheint mir sowol die lebensstellung der späteren atthido- graphen wie die qualität ihrer bücher zu deuten. Ich habe wenigen, aber wertvollen beifall und vielen widerspruch und spott, nicht bloſs von leuten, wo er mir lieber als beifall ist, ge- erntet, als ich vor jahren die attische chronik als eine und zwar die beste quelle der athenischen geschichte hinstellte. damals stand sie noch völlig im schatten der groſsen schriftsteller so ganz anderer art, des Herodotos und Thukydides. nun hat sich das geändert, denn Aristoteles bringt sie uns ganz anders nahe, und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie zu den trivialsten tatsachen der ‘quellenkunde’ gehören wird. es gibt freilich unter den historikern eine richtung, der alle und jede griechische annalistische überlieferung ein greuel ist, und mit dieser muſs ich leider auf eine verständigung verzichten. denn ich sehe, wie überaus bequem es sich ihr consequentester und scharfsinnigster ver- treter macht, das unbequeme buch des Aristoteles zu beseitigen, damit der noch viel bequemere glaube bestehen bleibe, daſs am anfange Homer steht, an den sich Herodotos und Thukydides schlieſsen, neben denen das übrige so ziemlich schwindel ist. Niese hat die beiden wichtigsten chroniken des Hellanikos, die von Argos und Athen, einer besprechung unterzogen, die, wenn ich ihn richtig verstehe, zeigen soll, daſs das er- zeugnisse ihres verfassers waren, nicht anders als das buch des Herodot diesem gehört, und in ihnen die s. g. mythische zeit sehr ausführlich auf grund der poeten behandelt war. das sind für Niese wertlose πλάσματα τῶν πϱοτέϱων, die jüngste vergangenheit auf grund münd- licher erkundigung des verfassers, etwa wie Herodot, zum teil nach Herodot, alles in eine annalistische form gebracht, auf die Niese nicht viel zu geben scheint. 33) in der tat ist was wir von Hellanikos haben 33) Für Niese ist überaus wichtig, daſs die chronik von Argos bei Hellanikos specifisch attische dinge berichtet hätte, natürlich weil sonst nichts zu berichten

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/295>, abgerufen am 22.11.2024.