anzunehmen sei, das beiden vorgelegen hätte, möchte ich nicht einmal fragen: dazu wissen wir zu wenig von dem schulbetriebe und ich wenigstens von der genaueren zeit, in der der Hipparchos verfasst ist. ist doch auch das ganz wol möglich, dass die veränderte schätzung der tyrannen, die mit der richtigeren beurteilung auch ihrer familienverhältnisse zu- sammenhängt, bereits in die Atthis eingang gefunden hatte, die sonst in der aristotelischen schilderung des Peisistratos zu grunde liegt.
Die zeit des Aristophanes und Thukydides sah in dem getöteten Hipparchos den tyrannen, in dem tyrannen den grausamen wollüstigen gesetzlosen zwingherrn; vor der tyrannis hatte man furcht: ihr gestirn stand 420--15 wirklich so dräuend am horizonte wie 490. dem ent- sprechend pries man die mörder des Hipparchos als befreier. im übrigen freute man sich der gegenwart und blickte mitleidig auf das sechste jahr- hundert, auf Solon so gut wie auf Peisistratos. die zeit der not und der revolutionen beschwor die schatten von Drakon und Solon; wie auch aufgefasst verkörperten sie die gute, leider verscherzte, zeit der bürgertugend. erst als die neue solonische demokratie nichts herrliches ward, und auch dann nur in den kreisen, wo man die wahrheit laut zu sagen wagte, kann Peisistratos rehabilitiert sein. Thukydides, der sich aus Solon nichts machte, hatte dafür vorgearbeitet. Platon freilich hat sich über die alte tyrannis niemals ausgelassen: er hat auch nur für den menschen und dichter Solon interesse gezeigt. und Isokrates gibt nur einmal, wo es ihm passt, das vulgäre bild von dem druck der tyrannis (Panath. 12, 148), aber bei Ephoros (Diodor X 37) und Theopompos (Athen. XII 532) stehen schon züge von der milde und leutseligkeit des Peisistratos. Hera- kleides (Plut. Sol. 1) hat mindestens die freundliche beziehung von ihm zu Solon, wenn nicht schon die erotische novelle erzählt, auch er einer des platonischen kreises. damals hat irgend jemand auch die forschungen angestellt, die wir bei Aristoteles finden und die nicht nur die volks- tümliche fabel, sondern selbst den Thukydides berichtigen.
I. 5. Thukydides.
anzunehmen sei, das beiden vorgelegen hätte, möchte ich nicht einmal fragen: dazu wissen wir zu wenig von dem schulbetriebe und ich wenigstens von der genaueren zeit, in der der Hipparchos verfaſst ist. ist doch auch das ganz wol möglich, daſs die veränderte schätzung der tyrannen, die mit der richtigeren beurteilung auch ihrer familienverhältnisse zu- sammenhängt, bereits in die Atthis eingang gefunden hatte, die sonst in der aristotelischen schilderung des Peisistratos zu grunde liegt.
Die zeit des Aristophanes und Thukydides sah in dem getöteten Hipparchos den tyrannen, in dem tyrannen den grausamen wollüstigen gesetzlosen zwingherrn; vor der tyrannis hatte man furcht: ihr gestirn stand 420—15 wirklich so dräuend am horizonte wie 490. dem ent- sprechend pries man die mörder des Hipparchos als befreier. im übrigen freute man sich der gegenwart und blickte mitleidig auf das sechste jahr- hundert, auf Solon so gut wie auf Peisistratos. die zeit der not und der revolutionen beschwor die schatten von Drakon und Solon; wie auch aufgefaſst verkörperten sie die gute, leider verscherzte, zeit der bürgertugend. erst als die neue solonische demokratie nichts herrliches ward, und auch dann nur in den kreisen, wo man die wahrheit laut zu sagen wagte, kann Peisistratos rehabilitiert sein. Thukydides, der sich aus Solon nichts machte, hatte dafür vorgearbeitet. Platon freilich hat sich über die alte tyrannis niemals ausgelassen: er hat auch nur für den menschen und dichter Solon interesse gezeigt. und Isokrates gibt nur einmal, wo es ihm paſst, das vulgäre bild von dem druck der tyrannis (Panath. 12, 148), aber bei Ephoros (Diodor X 37) und Theopompos (Athen. XII 532) stehen schon züge von der milde und leutseligkeit des Peisistratos. Hera- kleides (Plut. Sol. 1) hat mindestens die freundliche beziehung von ihm zu Solon, wenn nicht schon die erotische novelle erzählt, auch er einer des platonischen kreises. damals hat irgend jemand auch die forschungen angestellt, die wir bei Aristoteles finden und die nicht nur die volks- tümliche fabel, sondern selbst den Thukydides berichtigen.
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I. 5. Thukydides.
anzunehmen sei, das beiden vorgelegen hätte, möchte ich nicht einmal
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von der genaueren zeit, in der der Hipparchos verfaſst ist. ist doch
auch das ganz wol möglich, daſs die veränderte schätzung der tyrannen,
die mit der richtigeren beurteilung auch ihrer familienverhältnisse zu-
sammenhängt, bereits in die Atthis eingang gefunden hatte, die sonst in
der aristotelischen schilderung des Peisistratos zu grunde liegt.
Die zeit des Aristophanes und Thukydides sah in dem getöteten
Hipparchos den tyrannen, in dem tyrannen den grausamen wollüstigen
gesetzlosen zwingherrn; vor der tyrannis hatte man furcht: ihr gestirn
stand 420—15 wirklich so dräuend am horizonte wie 490. dem ent-
sprechend pries man die mörder des Hipparchos als befreier. im übrigen
freute man sich der gegenwart und blickte mitleidig auf das sechste jahr-
hundert, auf Solon so gut wie auf Peisistratos. die zeit der not und
der revolutionen beschwor die schatten von Drakon und Solon; wie
auch aufgefaſst verkörperten sie die gute, leider verscherzte, zeit der
bürgertugend. erst als die neue solonische demokratie nichts herrliches
ward, und auch dann nur in den kreisen, wo man die wahrheit laut zu sagen
wagte, kann Peisistratos rehabilitiert sein. Thukydides, der sich aus Solon
nichts machte, hatte dafür vorgearbeitet. Platon freilich hat sich über
die alte tyrannis niemals ausgelassen: er hat auch nur für den menschen
und dichter Solon interesse gezeigt. und Isokrates gibt nur einmal, wo
es ihm paſst, das vulgäre bild von dem druck der tyrannis (Panath.
12, 148), aber bei Ephoros (Diodor X 37) und Theopompos (Athen. XII 532)
stehen schon züge von der milde und leutseligkeit des Peisistratos. Hera-
kleides (Plut. Sol. 1) hat mindestens die freundliche beziehung von ihm
zu Solon, wenn nicht schon die erotische novelle erzählt, auch er einer
des platonischen kreises. damals hat irgend jemand auch die forschungen
angestellt, die wir bei Aristoteles finden und die nicht nur die volks-
tümliche fabel, sondern selbst den Thukydides berichtigen.
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/134>, abgerufen am 16.02.2025.
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